§ 40 Bestimmte und unbestimmte Rechtsnormen

I.        Das Unbestimmtheitstheorem

Literatur: Lorenz Kähler, The Indeterminacy of Legal Indeterminacy, ARSP Beiheft 102, 2005, 77-84; Ken Kress, Legal Indeterminacy, California Law Review 77, 1989, 283-337; Ralf Poscher, Ambiguity and Vagueness in Legal Interpretation, in: Peter Tiersma/Lawrence Solan (Hg.), The Oxford Hb of Language and Law, 2012, 128-144 (SSRN 1651465); Christian Uhlmann, Der Bestimmtheitsgrundsatz im Privatrecht, 2024Lawrence T. Solum, LTL 026: Rules, Standards, Principles, Catalogs, and Discretion.

Ein zentraler Angriffspunkt der Rechtskritik lautet: Das Recht ist unbestimmt. Es kann daher seine Versprechen nicht einhalten, denn es ist fremden Mächten ausgeliefert. Die Rechtstheorie erwidert: Das Recht ist zwar in vieler Hinsicht unbestimmt. Aber gerade daraus gewinnt es seine Leistungsfähigkeit.

Das Recht ist notwendig unbestimmt, denn es ist wie die Natur. Das Phänomen der Unbestimmtheit von Regeln ist altbekannt:

»Die Fülle des Lebens, und, zumal bei einer Kodifikation, das Ineinandergreifen der geplanten Rechtsnormen lassen sich nicht übersehen. Daneben stehen aber die großen Schwierigkeiten der begrifflichen Redaktion. Namentlich ist hervorzuheben, daß die Mehrdeutigkeit der verwendbaren Worte notwendig eine Unbestimmtheit der Gesetzesgebote zur Folge hat. Mit verschwindender Ausnahme ist jedes Wort mehrdeutig. Ein sicherer Bedeutungskern ist von einem allmählich verschwindenden Bedeutungshof umgeben. Diese Unbestimmtheit verhindert schon für den Gesetzgeber die Bildung von Gebotsvorstellungen, welche für alle Anwendungsfälle bestimmte Ergebnisse liefern, und macht es eventuell dem Richter unmöglich, solche Vorstellungen, wenn sie vorhanden waren, zu erkennen« (Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112, 1914, 89f, 173 f.)

Die Unbestimmtheit des Rechts zeigt sich zunächst als semantische Unbestimmtheit in der Vagheit, Porosität und Abstraktionsfähigkeit der Sprache, die dem Recht zu einer open texture verhilft (o. § 4 XIII). Die Unbestimmtheit zeigt sich weiter, in der prinzipiellen Unvollständigkeit des Rechts (defeasibility of legal rules; o. § 22 VII). Gemeint ist, dass es unmöglich ist, alle Anwendungsfälle einer Regel zu bedenken und dabei alle Konstellationen vorweg zu nehmen, die eine Ausnahme von der Regel erfordern. Insoweit folgt die Unbestimmtheit aus der Natur der Sache, das heißt hier, aus der Notwendigkeit der Abstraktion und aus den beschränkten Möglichkeiten einer auf die Gestaltung der Zukunft gerichteten sprachlichen Verständigung.

Im Blick auf die offene Zukunft nutzt das Recht gezielt Elemente, die die (semantische) Unbestimmtheit auf der Stirn tragen. Keil/Poscher sprechen insoweit von kommunikativer Vagheit, das heißt, von einer Unbestimmtheit, die nicht durch die Sprache als Kommunikationsmittel vorgegeben ist, sondern sich entweder situativ ergibt oder bewusst eingesetzt wird. Solche Unbestimmtheit entsteht durch gezielten Einsatz von gradualisierbaren oder unvollständig kombinatorisch definierten Tatbestandsmerkmalen oder gar Generalklauseln, kurz, von unbestimmten Rechtsbegriffen. Daraus ergeben sich mehr oder weniger »harte« und »weiche« Normen.

Die Frage, ob die Unbestimmtheit des Rechts Vorteil oder Nachteil sei, ist müßig, denn es gibt keine Alternative. Immerhin gibt es ein Mehr oder Weniger. Vor allem die Gesetzgebung verfügt insoweit über einige Stellschrauben. Einige werden in den folgenden Abschnitten thematisiert. Letztlich geht es um eine Optimierungsaufgabe, bei der es zwischen Rechtssicherheit und Angemessenheit im Einzelfall, Vollständigkeit und Zukunftsfähigkeit, Effektivität und Kosten zu vermitteln gilt.

Die Gegenfrage lautet immer wieder: Wie gelingt es die Unbestimmtheit so in den Griff zu bekommen, dass das Recht nicht fremden Mächten ausgeliefert ist. Darauf gibt es einige große und viele kleine Antworten. Die großen Antworten werden unter Stichworten wie Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz, Funktion der Rechtsdogmatik und Grundrechts-, Wert- und Prinzipienbindung abgehandelt. Kleinere Antworten laufen unter Überschriften wie Interpretation, Konkretisierung oder Präzisierung. Sie finden sich in der Methodenlehre oder in der Dogmatik, z. B. des Verwaltungsrechts, wenn sie Beurteilungsspielräume festlegt und Regeln für die Ermessenskontrolle aufstellt (u. IV.) oder im Revisionsrecht bei der Frage, ob dem Tatrichter für »originäre Wertungsspielräume« ein nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum bleibt (u. VI). Mit H. L. A. Hart darf man festhalten: Die Unbestimmtheit ist eine unvermeidliche Eigenschaft des Rechts, die aber als solche keinen Anlass zur Kritik gibt. Es kommt allein darauf an, dass die Unbestimmtheit methodisch angemessen abgearbeitet wird.

Wir beziehen uns auf Harts posthum (1956) veröffentlichten Aufsatz »Discretion« (Harvard Law Review 127, 2013, 652-665). Dazu Geoffrey C. Shaw, H. L. A. Hart’s Lost Essay: Discretion and the Legal Process School, Harvard Law Review 127, 2013, 666-727.

Wenn die immer wieder erforderliche Konkretisierung als Streitfall vor Gericht entschieden wird, handelt es sich um die letzte Stufe der Rechtsschöpfung im Stufenbau (u. § 56xxx). Wenn wir uns das Recht nach der Lehre von Merkl und Kelsen als Stufenbau vorstellen, so ist die unterste Stufe erst mit einer individuellen Norm erreicht, das heißt, mit einer Norm die nur einen einzelnen konkreten Fall regelt. Stets geht es bei der Konkretisierung abstrakterer Normen um eine Fortsetzung des Rechtserzeugungsprozesses mit nicht bloß deklaratorischer, sondern mit konstitutiver Wirkung (Kelsen RR S. 245). Verwaltungsverfahren und Gerichtsverfahren sind insofern keine Rechterkenntnisverfahren, sondern Rechtserzeugungsverfahren.

»Es lässt sich leicht zeigen, daß jede Rechtsanwendung, d. h. jede Konkretisierung genereller Norm, jeder Übergang von einer höheren zu einer niederen Stufe der Rechtserzeugung, nur Ausfüllung eines Rahmens, nur Tätigkeit innerhalb der von der Norm höherer Stufe gesetzten Schranken ist. Niemals kann die Determination der niederen durch die höhere Stufe eine vollständige sein, stets müssen in der niederen Stufe inhaltliche Momente hinzukommen, die in der oberen Stufe noch fehlen, sonst wäre ja ein weiterer Fortschritt des Rechtserzeugungsprozesses gar nicht möglich, eine weitere Stufe überflüssig. So wie zwischen abstraktem Begriff und konkreter Vorstellung notwendig eine inhaltliche Differenz bestehen muß. Diese notwendige Differenz zwischen höherer und niederer Stufe der Rechtskonkretisation ist das sog. »freie Ermessen«. Es ist grundsätzlich ebenso bei der Rechtsprechung wie bei der Verwaltung vorhanden, sofern eben beide nur mehr oder weniger, niemals aber ganz von der Gesetzgebung determiniert sind; wie ja auch diese mehr oder weniger durch die Verfassung bestimmt ist und daher einen mehr oder weniger großen Spielraum freien Ermessens hat.« (Kelsen, Allgemeine Staatslehre S. 243)

Missverständlich ist die Benennung der Differenz zwischen der höheren und einer niederen Stufe als »freies Ermessen«; wichtig das »mehr oder weniger« im letzten Satz des Zitats. Bei der Konkretisierung der Gesetze durch Gerichte und Verwaltungen sind die »Schranken« gewöhnlich so eng, dass schwerlich von »Ermessen« oder gar von »freiem Ermessen« die Rede sein kann. Nach dem üblichen Sprachgebrauch kommt Ermessen erst dann ins Spiel, wenn die klassischen Auslegungsmethoden zu Konkretisierung nicht ausreichen.

II.        »Harte« und »weiche« Normen

Literatur: Marietta Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit: Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, 2005, S. 46 ff.; Scott Baker/Pauline T. Kim, A Dynamic Model of Doctrinal Choice, Journal of Legal Analysis 4, 2012, 329-363; Philip Maximilian Bender, Grenzen der Personalisierung des Rechts, 2022; Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, 4. Aufl. 1990; Louis Kaplow, Rules versus Standards: An Economic Analysis, Duke Law Journal 42, 1992, 557-629; ders., A Model of the Optimal Complexity of Legal Rules, Journal of Law, Economics & Organization 11, 1995, 150-; ders., General Characteristics of Rules, in: Boudewijn Bouckaert/Gerrit De Geest (Hg.), Encyclopedia of Law and Economics, Bd. I, 2000, 502-528; Gerhard Otte, Die Anwendung von Rechtsnormen mit oder ohne Spielraum, in: Bernd Schilcher u. a. (Hg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, 2000, 143; Jörg Pflüger, Wo die Quantität in Qualität umschlägt. Notizen zum Verhältnis von Analogem und Digitalem, in: Martin Warnke u. a. (Hg.), HyperKult II, 2005, 27–94; Richard A. Posner/Isaac Ehrlich, An Economic Analysis of Legal Rulemaking, Jounal of Legal Studies 3 (1975), 257; Pierre Schlag, Rules and Standards, UCLA Law Review 33, 1985, 379-430; Lawrence B. Solum, LTL: Rules, Standards, Catalogs & Discretion, 2015; Thomas Ulen, Präzise und unpräzise Verhaltensnormen im Lichte begrenzter Rationalität, in: Claus Ott/Hans-Bernd Schäfer (Hg.), Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, 1999, 346; Karl-Heinz Strache, Das Denken in Standards, 1968; Franz Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956.

III. Konditional- und Zweckprogramme

IV. Privatautonomie als »Ermessen«

V. Administrative Letztentscheidungen

VI. Richterliches Ermessen