§ 39 Organisations- und Ermächtigungsnormen

I.        Normsetzungskompetenzen

Literatur: Robert Alexy, Theorie, 211 ff.; Eugenio Bulygin, On Norms of Competence, Law and Philosophy 11, 1992, 201-216; Stanley Paulson, An Empowerment Theory of Legal Norms, Ratio Juris 1, 1988, 58-72; ders., The Weak Reading of Authority in Hans Kelsen’s Pure Theory of Law, Law and Philosophy 19, 2000, 131-171; Dick W. P. Ruiter, Institutionelle Rechtstatsachen. Rechtliche Ermächtigungen und ihre Wirkungen, 1995; Giovanni Sartor, Legal Reasoning, Kap. 24 (Proclamative Power); Torben Spaak, Norms that Confer Competence, Ratio Juris 16, 2003, 89-104; Heiko Sauer, Handeln ultra vires im Stufenbau der Rechtsordnung, in: Clemens Jabloner u. a. (Hg.), Der Stufenbau des Rechts auf dem Prüfstand, 2022, 64–84; Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983; Norman Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, 2009.

Normen – so sagt Kelsen (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 203) – können nur zwei denkbare Inhalte haben. Sie können aussprechen, dass der Normadressat selbst etwas tun soll, oder sie können aussprechen, dass der Adressat seinerseits befugt ist, eine Norm zu setzen. Eine Norm kann also nur befehlenden oder ermächtigenden Inhalt haben. Zwar erweisen sich auch Ermächtigungen letztlich als unselbständige Teile einer vollständigen Sollnorm. Sie bilden nur das Glied einer Kette, die am Ende irgendjemand zu irgendetwas verpflichtet. Die Ermächtigung selbst ist nichts anderes als das Gebot, dem Gebot eines anderen zu folgen. Aber als eine spezielle Art von Imperativen bilden Ermächtigungs- oder Kompetenznormen eine so wichtige Konstellation, dass sie besondere Betrachtung verdienen.

Das Verhältnis von Ermächtigungsnormen und Verhaltensnormen ist allerdings Gegenstand einer Debatte. Eine Aufwertung haben die Kompetenznormen durch die Rechtstheorie von H. L. A. Hart erfahren. Ihr Kernstück ist die Unterscheidung von primary rules und secondary rules. Secondary rules sind solche Normen, die den Erlass und die Änderung von einfachem Recht regeln, also praktisch Kompetenz- oder Ermächtigungsnormen. Weiter aufgewertet werden die Ermächtigungsnormen, wenn man sie mit Ruiter als Basis »institutioneller Rechtstatsachen« interpretiert, die erst Rechtswirksamkeit im Sinne von Performanz ermöglichen. Kelsen selbst bleibt insoweit undeutlich, wenn er in (RR 123) schreibt, es sei »nicht überflüssig hervorzuheben, daß, wenn ein Individuum zu einem bestimmten Verhalten ermächtigt ist, es damit zu diesem Verhalten nicht verpflichtet sein muß«. Es ist klar, dass Ermächtigungsnormen selbst keine Verpflichtung, sondern nur eine Berechtigung begründen. Die Verpflichtung trifft diejenigen, die die Berechtigung zu respektieren haben. Wir meinen daher, dass sich Ermächtigungen auf Verpflichtungsnormen reduzieren lassen, indem man sie als unselbständige Normen begreift.

Ermächtigungsnormen – wir sprechen lieber von Kompetenznormen – sind alo Normen, die eine näher bezeichnete Person oder Stelle im Stufenbau der Rechtsordnung (u. § 54) ermächtigen, nachrangige Rechtsnormen zu setzen. Eine Ermächtigung kann auch das Recht zur Weitergabe (Delegation) der Ermächtigung beinhalten. An dieser Stelle zeigt es sich, dass es in vielen Zusammen­hängen sinnvoll ist, einen weiten Begriff der Rechtsnorm zu verwenden, der generelle und individuelle Normen einschließt (o. S. 198). Dann ergibt sich nämlich, dass Regelungen, die man überhaupt nicht zusammen zu denken gewohnt ist, doch die gleiche Struktur aufweisen. Dann enthalten nicht nur die Verfassung Kompetenzregeln für den Gesetzgeber und dessen Gesetze Verordnungsermächtigungen an die Regie­rung. Die Spanne reicht bis hin zu der Möglichkeit, im Rahmen der Privat­autonomie Verträge zu schließen, Vollmachten zu erteilen oder subjektive Rechte auszuüben.

Die große praktische Bedeutung von Kompetenznormen ist in jüngerer Zeit mit der Neuverteilung der Kompetenzen von Bund und Ländern durch die Föderalismusreform deutlich geworden. Zu andauernden politischen und justiziellen Auseinandersetzungen führen die dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung folgenden Kompetenztitel der Europäischen Union in den Gründungsverträgen.

Kompetenzüberschreitung bedeutet ein Handeln ultra vires mit der Folge der Fehlerhaftigkeit des so entstandenen Rechtsakts. Wollte man allein auf die »Logik« des Stufenbaus abstellen, müsste jede Kompetenzüberschreitung Nichtigkeit und damit Unbeachtlichkeit zur Folge haben. So hat das BVerfG das Weiss-Urteil des EUGH und die Rechtsakte über das PSP-Programm zum Ankauf von Staatsanleihen für unbeachtlich erklärt, da sie ultra vires ergangen seien. Indessen sind Verwaltungsakte, die von einer unzuständigen Behörde erlassen werden, wirksam, aber anfechtbar, und Gerichte, die ein Gesetz als verfassungswidrig ansehen, müssen nach Art. 100 I GG das Bundesverfassunsgericht anrufen. Sauer wendet sich deshalb gegen die Gleichsetzung von Kompetenzüberschreitung und Handeln ultra vires. Wenn die EU ihre Kompetenzen überschreite handele sie doch nicht ultra vires, sondern nur rrechtswidrig, und diese Rechtswidrigkeit sei nach den Regeln des Unionsrechts (Art. 263 AEUV) und damit vom EUGH definitiv zu entscheiden. Richtig ist ist daran nur, dass eine Kompetenzüberschreitung nicht stets Ipso-jure-Nichtigkeit und damit ohne weiteres Unbeachtlichkeit zur Folge hat. Die Rechtsfolge hängt in erster Linie von der Offensichtlichkeit der Kompetenzüberschreitung und in zweiter Linie von der Einbettung der Kompetenzvorschrift in die Rechtsordnung ab.

Fehlt es offensichtlich an Kompetenz, z. B. wenn ein Minister ein Gesetz erlässt, so ist Nichtigkeit die Folge. Doch im Regelfall liegt die Kompetenzüberschreitung nicht auf der Hand. Der Gebrauch einer Kompetenz innerhalb einer Rechtsordnung ist selbst Rechtsanwendung und damit grundsätzlich auch von Gerichten kontrollierbar. Daher hängt es von einem »positivrechtlichen Fehlerkalkül« (Merkl) der umgreifenden Rechtsordnung ab, unter welchen Umständen eine Kompetenzüberschreitung zur Ipso-jure-Nichtigkeit und damit ohne weiteres zur Unbeachtlichkeit führt, oder ob der Fehler bloße Anfechtbarkeit zur Folge hat. Für die Folgen einer Kompetenzüberschreitung durch Organe der Union kommt es daher nicht darauf an, eine Kompetenzüberschreitung und ein Handeln ultra vires zu unterscheiden. Entscheidend ist vielmehr, welcher Rechtsordnung die fraglichen Kompetenzen zugehören. Sauer ordnet diese Kompetenzen dem Unionsrecht zu und gelangt so zu dem Ergebnis, dass auch das Unionsgericht über die Kompetenzwidrigkeit zu entscheiden habe. Das Bundesverfassungsgericht geht jedoch davon aus, dass die Kompetenzen der Organe der Union aus den nationalen Rechten fließen mit der Folge, dass deren Gerichte das letzte Wort behalten.

II.     Privatautonomie

Literatur: Klaus Adomeit, Gestaltungsrechte, Rechtsgeschäfte, Ansprüche. Zur Stellung der Privatautonomie im Rechtssystem, 1969; ders., Zivil­rechtstheorie und Zivilrechtsdogmatik – mit einem Beitrag zur Theorie der subjektiven Rechte, JbRSozRTh 2, 1972, 503-522; Gerhart Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung, 1925; Fritz von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, 1936; Klaus F. Röhl, Über außervertragliche Voraussetzungen des Vertrages, in: Recht und Gesellschaft, FS Helmut Schelsky, 1978, 435-480.

»Das ganze Privatrecht [erhebt sich] auf der Basis des öffentlichen.« (Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, 82 f.)

Die Privatautonomie erscheint auf den ersten Blick nur als Gebrauch der natürlichen Handlungsfreiheit. Aber was bindet die Parteien eines Vertrages an den Vertrag? Ist es Selbstbindung, die durch den übereinstimmenden Willen des Vertragschließenden bewirkt wird? Oder ist es das Recht, das die Parteien an ihren Erklärungen festhält? Normlogisch kann Privatautonomie nur als Ermächtigung zum Vertrags­schluss verstanden werden (Adomeit). Wäre der Abschluss von Rechtsgeschäften lediglich freigestellt, so könnten sich daran keine Rechtsfolgen knüpfen. In diesem Sinne ist es dem Minderjährigen freigestellt, Verträge zu schließen. In diesem Sinne mag jedermann auf Spiel und Wette eingehen. Aber dass er sein Versprechen nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich zu halten verpflichtet ist, ergibt sich nicht aus dem Versprechen als solchem, sondern aus einem rechtlichen Gebot. Dieses Gebot setzen die Vertragsparteien selbst. Privatautonomie ist so betrachtet die Ermächtigung an jedermann, Versprechen abzugeben und entgegenzunehmen und sie dadurch bindend zu machen. Der Vertrag begründet dann weitere Ermächtigungen, vor allem in der Form von Gestaltungsrechten. Das Recht bildet insofern (nach einer Formulierung des Soziologen Durkheim) die außervertragliche Grundlage des Vertrages.

Wie selbstverständlich nehmen wir heute an, dass die in Angebot und Annahme ausgedrückten wechselseitigen Versprechen der Parteien die rechtliche Verbindlichkeit des Vertrages begründen. Es sollte uns skeptisch machen, wenn wir in Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie (S. 245) lesen:

»Vertragswille ist aber wohl Wille, sich zu binden, nicht jedoch schon Bindung. Wille kann niemals Verpflichtung erzeugen, nicht fremde, aber auch nicht eigene Verpflichtung, er kann höchstens die Sachlage hervorbringen wollen, an die eine über ihm stehende Norm die Verpflichtung knüpft. Nicht der Vertrag bindet also, sondern das Gesetz bindet an den Vertrag. Vertragsbindung ist nicht geeignet, der gesetzlichen Bindung als Grundlage zu dienen, sie setzt die gesetzliche Bindung gerade umgekehrt voraus … Der bindende Wille ist der Wille von gestern, der gebundene der Wille von heute und morgen. Der gebundene Wille ist der wankelmütige, empirische, der bindende der als konsequent gedachte Wille, der heute will, was er gestern wollte – und also ein fingierter Wille. Der Wille bindet also nicht selbst, vielmehr wird der wandelbare empirische Wille an den fingierten Dauerwillen gebunden. Vertragsbindung ist nicht Autonomie, sondern Heteronomie.«

Damit hat Radbruch die Frage nach den außervertraglichen Grundlagen des Vertrages gestellt. Sie lässt sich auch als Frage nach der »selbständigen Begründbarkeit von Rechtsgeschäften im Naturzustand« formulieren.

»Zwei Menschen begegnen sich in der Wüste fernab von menschlicher Siedlung. Sie sind verschiedener Rasse und haben einander nie gesehen. Der Eine (A) hat gedörrtes Fleisch bei sich; ihn dürstet. Der Andere (B) trägt einen Beutel Wassermelonen; er hat Hunger. Sie messen einander mit Blicken. Die Stärke scheint gleich, die Gewinnchance eines Kampfes daher jedem Teil ungewiß. Sie schließen aus dieser Erwägung, durch Zeichen sich verständigend, einen Tauschvertrag (Melonen gegen Fleisch), den sie sofort bar vollziehen. Beider in beteuernden Gesten verlautbarter Wille geht dahin, den durch den Tauschvertrag geschaffenen Zustand des Habens als rechtmäßigen und unangreifbaren zu achten. Nun lassen sie sich beieinander nieder und halten für sich Mahlzeit. Dem B verblieb noch ein Teil des eingetauschten Fleisches unverzehrt, als er einschläft. Wenn ihm jetzt A den Rest des zuvor tauschweise hingegebenen Fleisches heimlich wegnimmt und sich damit aus dem Staub macht, handelt er nicht rechtswidrig, und zwar deshalb, weil er die Norm des mit B abgeschlossenen Vertrages mißachtete und sich handelnd gegen sie auflehnte?« (Gerhart Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung, 1925, S. 39)

Husserl und ihm folgend Fritz von Hippel (S. 92 ff.) wollen die Frage »unbedingt bejahen«, geraten mit der Begründung jedoch auf ein naturrechtliches Gleis. Husserl postuliert eine lex contractus, die als Rechtsordnung die Tauschpartner verbindet; und von Hippel setzt eine explizit als naturrechtlich bezeichnete Grundnorm voraus, »daß Gerechtigkeit herrschen soll, daß jedermann verpflichtet ist, bei seinem Verhalten die Interessen der anderen im Rahmen der Gleichberechtigung zu berücksichtigen«. Sinnvoll ist dagegen allein die Frage, ob in der von Husserl gegebenen Ausgangssituation die Chance besteht, dass A und B sich auf einen Tausch einigen und ihn reibungslos abwickeln. Das scheitert daran, dass A in der Wüste keine Rücksicht auf eine erhaltenswerte Sozialbeziehung nehmen muss.

Das psychologisch verankerte Reziprozitätsprinzip kann bei der gegebenen Konstellation der Randbedingungen wohl die Einleitung, nicht aber die reibungslose Abwicklung des Tausches bewirken. Dazu ist die Unterstützung der die Vertragspartner umgebenden Gesellschaft notwendig. Letztlich hilft hier nur das Recht. Es gibt zwar außerrechtliche Mechanismen, die die Einhaltung von Verträgen unterstützen. Der wichtigste ist das Vertrauen. Ein erfolgreich abgewickelter Tausch ist die beste Basis für weitere Geschäfte. In Dauerbeziehungen kann der rechtliche Aspekt des Vertrages weitgehend im Hintergrund bleiben. Prekär ist die Vertrauensfrage besonders dann, wenn die Vertragsparteien einander unbekannt sind und ein Teil vorleisten soll. Die EDV macht es möglich, über mehr oder weniger jeden ein Verhaltensprofil anzulegen, das als Vertrauensbasis dienen kann. Firmen speichern das Vertragsverhalten ihrer Kunden. Für jeden Bürger hat die Schufa ein Kreditrating bereit. Veranstalter von Online-Auktionen (Ebay) haben ein P2P- (Peer-to-Peer) Reputationssystem eingerichtet, mit dem man wechselseitig sein Vertragsverhalten bewertet. Vertrauensbildende Maßnahmen entlasten das Recht, machen es aber nicht überflüssig. Ohne Recht gibt es allenfalls praktische oder moralische Gründe, das Vertragsversprechen als solches für bindend zu halten.

Nicht das Versprechen bindet die Parteien an den Vertrag, sondern die Forderung des Rechts, Versprechen einzuhalten. Die natürliche Freiheit, sich auf einen Vertrag zu einigen, führt zu einem Vertrag im Rechtssinne erst, wenn und weil die Rechtsordnung den Vertragsschließenden die Kompetenz zur Selbstbindung verleiht. Darin steckt die Privatautonomie.

III.  Organisations- und Verfahrensnormen

Literatur: Christoph Möllers, Materielles Recht –Verfahrensrecht – Organisationsrecht, in: Hans-Heinrich Trute u. a. (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, 489-512; Friedrich E. Schnapp, Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie des Organisationsrechts, AöR 105, 1980, 243-278.

Traditionell unterscheidet man materielles und formelles Recht. Materiell ist alles, was nicht zum Erkenntnisverfahren und zum Vollstreckungsverfahren gehört. Die Unterscheidung von Organisationsnormen und Verfahrensnormen liegt quer zu dieser Zweiteilung.

1.          Der statische Aspekt: Organisation

Organisations- und Verfahrensnormen sind unselbständige Teile von Ermächtigungsnormen. Die Ausübung einer Normsetzungskompetenz wird Individuen oder Personenmehrheiten übertragen, die bestimmten Anforderungen entsprechen müssen. Individuen etwa müssen geschäftsfähig sein oder Vertretungs­macht besitzen. Wird die Entscheidung mehreren Personen übertragen, so müssen sie in bestimmter Weise ausgewählt und eingesetzt werden. Regierungen und Parlamente, Behörden und Gerichte, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und Handels­gesellschaften, sie alle haben als Träger von Normsetzungsbefugnissen eine bestimmte Organisation. Organisationsnormen schaffen damit ein berechtigungsfähiges Objekt, das heißt ein Rechtssubjekt. Es liegt auf der Hand, dass das Organisationsnormen im öffentlichen Recht eine größere Rolle spielen, werden Staat und Verwaltung doch erst durch solche Normen konstituiert.

Die Organisation bildet den statischen Aspekt der juristischen Person. Der dynamische ist das Verfahren. Die Unterscheidung zwischen beiden Aspekten ist nicht immer eindeutig. Trotzdem ist es sinnvoll, mit den Organisationsregeln zunächst die (statische) Struktur zu beschreiben, bei der Bundesrepublik etwa den föderalen Aufbau, die verschiedenen Verfassungsorgane und ihre Zusammensetzung sowie den Aufbau der Behörden und Gerichte, bei einer Aktiengesellschaft die Stellung von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung und das Erfordernis eines Grund­kapitals, im Zivilrecht Rechtsfähigkeit, Geschäftsfähigkeit, Vollmacht und Vertretung.

2.          Der dynamische Aspekt: Verfahren

Das dynamische Element der Kompetenz ist die einmalige oder laufende Produktion von Normen oder Einzelfallentscheidungen. Ganz gleich ob Parlamente Gesetze beschließen, ob Gerichte Urteile fällen oder ob bei einer Aktiengesellschaft Beschlüsse des Aufsichtsrats oder Rechtsgeschäfte des Vorstands zur Debatte stehen, solche Entscheidungen werden nicht »aus dem Stand« getroffen. Sie erfordern die geordnete Mitwirkung mehrerer, oft sehr vieler Personen oder Organe. Beteiligt sind nicht nur die Kompetenzträger, sondern auch die betroffenen Normadressaten. Der Weg zur Entscheidung ist daher durch Verfahrensnormen geregelt. Die geläufigsten gehören zum Prozessrecht und zum Recht des Verwaltungsverfahrens. Verfahrensrecht im weiteren Sinne findet sich aber auch im materiellen Recht, etwa in der Gestalt von Formvorschriften. So regeln die §§ 2229 ff. BGB das »Verfahren« der Errichtung und Aufhebung eines Testaments. Der Erlass eines Verwaltungsaktes hat die verfahrensrechtlichen Vorgaben des VwVfG zu beachten, für diese wie für die anderen Handlungsformen der Verwaltung enthalten häufig Spezialgesetze einschlägige Verfahrensvorschriften: Wichtige privatrechtliche Verträge müssen nach den Regeln der §§ 98 ff. GWB vergeben werden, für kommunale Satzungen sind die Vorgaben der Gemeindeordnungen zu beachten, für Bebauungspläne zusätzlich die §§ 1 ff. BauGB.

IV.   Kompetenzen im Bundesstaat und in der EU

1.     Deutschland als föderaler Bundesstaat

Die Staatslehre unterscheidet zwischen Staatenbund und Bundesstaat. Der Staatenbund hat keine eigene Rechtspersönlichkeit, sondern bewegt sich noch auf der Ebene des Völkerrechts. Mit dem Bundesstaat entsteht eine neue rechtliche Einheit, die den verbundenen Staaten jedenfalls im Prinzip übergeordnet ist. Die deutsche Staatsrechtslehre postuliert sowohl für die Bundesrepublik als auch für die in ihr verbundenen Länder Souveränität und damit Staatscharakter. Wie das abstrakt zusammenpasst, mag hier dahinstehen. Dafür gibt es kein theoretisches Modell, sondern nur die historische Entwicklung. An dieser Stelle interessiert die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, wie sie in den Art. 70 bis 82 GG geregelt ist.

Auf den ersten Blick hat der Bund die Kompetenz-Kompetenz, weil er durch das Grundgesetz die Verfassung ändern kann. Aber diese Kompetenz war und ist doch insofern nicht uneingeschränkt, als nach Art. 79 III GG die Gliederung des Bundes in Länder und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung bestandsfest sind. Die Mitwirkung der Länder läuft über den Bundesrat. Der Bundesrat kann selbst Gesetzesvorlagen beim Bundestag einbringen, Vorlagen der Bundesregierung sind ihm vorab zuzuleiten (Art. 76 I und II GG), es gibt einen Katalog zustimmungspflichtiger Gesetzesmaterien. In anderen Fällen kann der Bundesrat Einspruch einlegen. Da die (partei-)politischen Verhältnisse im Bund nicht mit denen in den Ländern übereinstimmen, hat die rechtliche Konstruktion zur Folge, dass der Bund seine politischen Programme nicht ohne weiteres durchsetzen kann, wenn die Regierungsparteien im Bund nicht über eine Mehrheit im Bundesrat verfügen. So kam es in den 1990er Jahren zu so genannten Politikblockaden, nachdem die Zahl der zustimmungspflichtigen Materien von anfangs 13 auf nahezu 60 erhöht worden war. Verschärft wurde diese Abhängigkeit noch dadurch, dass das BVerfG eine einzige zustimmungspflichtige Norm in einem umfangreicheren Gesetz genügen ließ, um das gesamte Gesetz zustimmungspflichtig zu machen (BVerfGE 105, 313/339).

Diese Situation führte 2006 zu einer Änderung insbesondere der Art. 72 und 84 GG (Föderalismusreform). Die »Politikverflechtung« ist damit zwar nicht grundsätzlich beseitigt. Das ginge auch gar nicht. Doch seither läuft die Abstimmung zwischen Bund und Ländern besser, vielleicht auch nur deshalb, weil die Veränderung der Parteienlandschaft die Kernparteien zu stärkerer Zusammenarbeit zwingt.

2.          Schleichende Kompetenzerweiterung in der EU

Literatur: Jessica Einhorn, The World Bank‘s Mission Creep, Foreign Affairs, 80, 22-35; Dieter Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union. Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 2009, 475-495; Roman Herzog/Lüder Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ vom 8. 9. 2008, S. 8 = DRiZ 2009, 141-147; Martin Höpner, Warum betreibt der Europäische Gerichtshof Rechtsfortbildung?, MPIfG Jahrbuch 2011–2012, 79-84; Marcus Höreth, Die Selbstautorisierung des Agenten. Der Europäische Gerichtshof im Vergleich zum U.S. Supreme Court, 2008; Lars Klenk, Die Grenzen der Grundfreiheiten, 2019; Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Letztentscheidung über Ultra-vires-Akte in Mehrebenensystemen 2000; Alec Stone Sweet, The European Court of Justice and the Judicialization of EU Governance, 2010, SSRN 1583345.

Die EU verfügt über keine originären Kompetenzen. Sie ist auf die Übertragung von Hoheitsrechten durch ihre Mitgliedsländer angewiesen. Aus der Politikwissenschaft ist der Mechanismus der schleichenden Kompetenzerweiterung (spill-over oder mission creep) vertraut. Wem bestimmte, begrenzte Kompetenzen übertragen sind, der strebt danach, diese auszuweiten oder jedenfalls abzurunden. Ist der Träger der Kompetenz bürokratisch organisiert, so tendiert er dazu, seinen Bestand zu sichern, und auch das das geht am besten durch eine Ausdehnung der Aufgabe.

Kritisch war insbesondere die politikwissenschaftliche Analyse von Martin Höpner. Der EUGH betreibe schrittweise eine »Integration durch Recht« auch bei eigentlich fehlenden Kompetenzen, wo er davon ausgehe, dass in der Sache auf weitgehende Zustimmung rechnen könne. Höpner sah darin eine Störung der Gestaltungsfreiheit nationaler Politik und eine Einschränkung der Demokratie. Auf Höpner beruft sich vor allem das gewerkschaftliche Lager, das den EUGH in einem Dauerkonflikt mit den Gewerkschaften sieht. Im Lissabon-Urteil vom 30.6. 2009 (E 123, 267) spricht das BVerfG von der Tendenz der Organe internationaler oder supranationale Organisationen zu ihrer »politischen Selbstverstärkung« und zitiert dazu Höreth und weitere einschlägige Literatur (Rn. 237). In einem neueren Beitrag hebt Höpner die »Ausbreitung nichtmajoritärer Institutionen (NMIs)« hervor. Gemeint sind demokratisch nicht oder nur schwach legitimierte Organe mit Entscheidungsbefugnissen wie im Falle der Union die Kommission und die EZB.

Den Organen der EU im Allgemeinen und dem EuGH im Besonderen wird vorgehalten, dass sie ihre Kompetenzen überschritten hätten. Sachthemen sind vor allem die Finanzmarktoperationen der EZB, arbeitsrechtliche Fragen und die Interpretation der Grundrechtecharta der Union, die die nationalen Grundrechte zurückdrängt. Letzteres läuft insofern auf eine Kompetenzerweiterung hinaus, als im deutschen Verfassungsrecht die personalen und kommunikativen Grundrechte im Vordergrund sehen, während die EU die wirtschaftlichen Freiheiten stärker betont.

Alle Regeln, auch Kompetenznormen, sind auslegungsbedürftig. Als Grundregel muss gelten, dass Kompetenzen eng zu handhaben sind. So gilt auch für die EU grundsätzlich ein Verbot der Kompetenzausweitung. Es ist in Art. 5 EUV als »Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung« formuliert und wird durch das Subsidiaritätsprinzip gestützt. Dieser Grundsatz hat eine offene Flanke, nämlich die »Ziele der Verträge«. Die Ziele sind mit den so genannten Grundfreiheiten hoch gesteckt. Die Berufung auf die Grundfreiheiten gibt dem EuGH die Möglichkeit, europäische Rechtsakte zu rechtfertigen und nationale Normen zu verwerfen (Klenk). Das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das in Art. 5 IV EUV gleichberechtigt neben dem Subsidiaritätsprinzip genannt wird, wirkt nicht als Bremse.

Auf den ersten Blick könnte man erwarten, dass jede Kompetenzüberschreitung von Organen der EU innerstaatlich verfassungswidrig wäre. Doch die Situation ist schwierig, weil die Auslegung der Verträge dem EuGH vorbehalten ist, ohne dass der EuGH in einem Hierarchieverhältnis zum BVerfG (und anderen nationalen Verfassungsgerichten) steht. Die Situation ist daher auf Konflikte angelegt. Lange wurde ein offener Konflikt vermieden, indem sich das BVerfG zwar theoretisch mit der so genannten Ultra-vires-Lehre ein Instrument schuf, um Kompetenzüberschreitungen der EU als »ausbrechende Rechtsakte« für unwirksam zu erklären (Maastricht-Urteil E 89, 155). Praktisch wurde dieses Instrument aber im Honeywell-Urteil (E 126, 286 Rn 57) durch den Grundsatz der europarechtsfreundlichen Auslegung und eine Kooperationsmaxime entschärft. Nach einigem Zögern hat das BVerfG mit dem PSPP-Urteil vom 5. 5. 2020 (E 154, 17) dann aber doch das Weiss-Urteil des EUGH als »methodisch nicht mehr vertretbar« verworfen, weil es eine »offensichtliche Kompetenzüberschreitung« durch die EZB billigte.

Das Weiss-Urteil vom 11. 12. 2018 war auf Vorlage der BVerfG ergangen und betraf die Frage, ob der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB im Rahmen des Public Sector Asset Purchase Programme (PSPP) eine nach Art. 123 I AEUV unzulässige Staatsfinanzierung sei.

Die Ultra-vires-Lehre geht bereits auf das Maastricht-Urteil vom 12. 10. 1993 (E 89,155) zurück. Sie wurde im Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 (E 123, 267) wieder aufgegriffen und durch den Gesichtspunkt der Verfassungsidentität ergänzt: Das Bundesverfassungsgericht ist berechtigt und verpflichtet, Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen darauf zu überprüfen, ob sie aufgrund ersichtlicher Kompetenzüberschreitungen oder auf-grund von Kompetenzausübungen im nicht übertragbaren Bereich der Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 und Art. 20 GG) erfolgen, und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kompetenz-überschreitender Handlungen für die deutsche Rechtsordnung festzustellen.

Die Debatte entzündete sich an dem Mangold-Urteil des EuGH vom 22. 11. 2005 (Slg. 2005, S. I-9981) sowie 2008 an einem von dem CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler beim BVerfG angestrengten Verfahren, in dem er sich gegen den Vertrag von Lissabon wandte. Der ehemalige Präsident des BVerfG Roman Herzog wandte sich scharf gegen die vom EuGH in Anspruch genommene Kompetenz-Kompetenz (Herzog/Gerken 2008) und der des ehemaligen Richters des BVerfG Dieter Grimm sprach gegen die Interpreation des Lissabon-Vertrages als einer europäischen Verfassung aus.

Im Lissabon-Urteil erklärte das Gericht das Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag und damit auch den Vertrag selbst für vereinbar mit dem Grundgesetz. Darin zeigte das Gericht die verfassungsrechtlichen Grenzen für den Vorrang des Unionsrechts in Deutschland auf und beharrte auf seinem Recht, die Einhaltung dieser Grenzen durch die europäischen Organe zu prüfen. Danach wartete man auf die Probe der Ultra-vires-Lehre im Fall Mangold. Dort ging es darum, dass ein Unternehmen der Automobilzulieferung im Jahre 2003 mit dem zuvor arbeitslosen Kläger des Ausgangsverfahrens einen auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag geschlossen hatte. Dabei hatte das Unternehmen auf das Teilzeit- und Befristungsgesetz vertraut, das vorübergehend eine Befristung ohne sachlichen Grund zuließ, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr vollendet hatte. Durch dieses wollte der Gesetzgeber die statistisch deutlich erhöhte Arbeitslosigkeit unter älteren Menschen durch niedrigere Barrieren für deren Wiedereintritt in das Berufsleben verringern. Der Kläger verlangte jedoch alsbald eine Entfristung des Arbeitsvertrages und stützte sich dazu u. a. auf die Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Der Rechtsstreit wurde schließlich vom Bundesarbeitsgericht dem EuGH vorgelegt, der entschied, dass das Verbot der Altersdiskriminierung auch schon vor Umsetzung der Richtlinien durch die nationale Gesetzgebung entgegenstehende nationale Vorschriften unwirksam mache, und berief sich dafür auf einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, den es den Erwägungsgründen der Richtlinie 2000/78/EG entnahm, die ihrerseits auf verschiedene völkerrechtliche Verträge und die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten verwiesen. Das BAG sah sich nunmehr genötigt, der Klage stattzugeben. Dagegen legte der Arbeitgeber Verfassungsbeschwerde ein und hoffte, das BVerfG werde dem EuGH eine Kompetenzüberschreitung in Gestalt einer unzulässigen Rechtsfortbildung bescheinigen. Diese Hoffnung wurde jedoch enttäuscht. Im so genannten Honeywell-Beschluss (E 126, 286) bestätigte das BVerfG zwar die Grundsätze des Lissabon-Urteils, entschärfte sie aber erheblich: »Die Ultra-vires-Kontrolle darf nur europarechtsfreundlich ausgeübt werden.« (Rn. 58) Die Kompetenzüberschreitung müsse »ersichtlich« oder gar »offensichtlich« sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge führen. Es wurde eine Art Wirksamkeitsvermutung für Europarechtsakte aller Art aufgestellt und mit einem Entscheidungsvorrang des EuGH kombiniert:

»Das bedeutet für die vorliegend in Rede stehende Ultra-vires-Kontrolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat. Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen.« (Rn.60)

»Zum anderen hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz. Daher ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen. Hinzunehmen sind auch Interpretationen der vertraglichen Grundlagen, die sich ohne gewichtige Verschiebung im Kompetenzgefüge auf Einzelfälle beschränken und belastende Wirkungen auf Grundrechte entweder nicht entstehen lassen oder einem innerstaatlichen Ausgleich solcher Belastungen nicht entgegenstehen.« (Rn. 66)

Allerdings kritisierte der Richter Landau in seinem Sondervotum, die Senatsmehrheit überspanne die Anforderungen an die Feststellung eines Ultra-vires-Handelns der Gemeinschafts- oder Unionsorgane und weiche damit ohne überzeugende Gründe von dem Senatsurteil zum Vertrag von Lissabon ab. Mit der Forderung nach einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge verkenne die Senatsmehrheit, dass spezifische Gefahren für die Wahrung der Kompetenzen und damit der demokratischen Legitimation im Fall der Europäischen Union weniger von schwerwiegenden – und als solchen erkennbaren – Kompetenzanmaßungen im Einzelfall als von schleichenden Entwicklungen ausgingen, in deren Verlauf kleinere, für sich betrachtet möglicherweise geringfügige Kompetenzüberschreitungen kumulativ bedeutende Folgen hätten. Die wohl in allen föderalen Systemen naheliegende Gefahr einer »politischen Selbstverstärkung« der höheren Ebene bestehe im Fall der Europäischen Union in besonderer Weise, da die Kompetenzverteilung hier, anders als in Bundesstaaten, nicht gegenstandsbezogen, sondern final (mit dem Ziel die Herstellung und Aufrechterhaltung des Binnenmarktes) erfolge. Landaus Fazit:

»Die für dieses Ergebnis vorgebrachten Begründungsansätze des Gerichtshofs vermögen ersichtlich nicht zu überzeugen; sie führen zu dem Schluss, dass der Gerichtshof ein von ihm im Sinne einer möglichst weitgehenden Geltung des Gemeinschaftsrechts gewolltes Ergebnis ohne Rücksicht auf den entgegenstehenden Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers durchgesetzt und so die Grenzen methodisch vertretbarer Rechtsfortbildung verlassen hat. Zudem verdeutlichen sie, wie unterschiedliche, durchweg unionsfreundliche, aber für sich genommen längst akzeptierte Argumentationsmuster des Gerichtshofs in ihrer Kombination die Gefahr einer schrittweisen, schwer aufzuhaltenden Erosion mitgliedstaatlicher Kompetenzen und demokratischer Legitimation mit sich bringen.« (Rn. 108)

Das PSPP-Urteil des BVerfG hat in Politik und Wissenschaft einen Sturm der Entrüstung entfacht. Die Entrüstung beim EuGH selbst und bei der Kommission darf man freilich nicht überbewerten, denn sie war vorprogrammiert. Ds gilt auch für die Entrüstung von Europarechtlern, denn sie haben nun einmal einen Pro-Europabias. Den Nagel auf den Kopf traf Bundestagspräsident Schäuble mit dem Kommentar, das Urteil des BVerfG sei gefährlich, aber unvermeidlich gewesen. Gefährlich ist es, weil sich Europafeinde darauf berufen werden. Aber es war unabweisbar, denn nachdem der EuGH im Weiss-Urteil die Vorlage der BVerfG teilweise für unzulässig erklärt und im Übrigen ohne Konzessionen zurückgewiesen hatte, blieb dem BVerfG nur die Wahl, dem EuGH zu widersprechen, wenn es künftig mit der Ultra-Vires-Lehre ernst genommen werden wollte.

Die Kommission hatte zunächst ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, sich dann aber mit beschwichtigenden Erklärungen der Bundesregierung zufriedengegeben. Dagegen hat der EuGH in einem Urteil vom 21. 12. 2021 (C-357/18 usw) seinen Standpunkt bekräftigt.

Das Urteil erging zu fünf Vorlageersuchen aus Rumänien und behandelt die Frage, ob sich rumänische Gerichte unter Brufung auf Unionsrecht über Entscheidungen des rumänischen Verfassungsgerichtshofs hinwegsetzen dürfen. Der Verfassungsgerichtshof hatte Urteile der ordentlichen Gerichte für nichtig erklärt, teils, weil diese nicht korrekt besetzt gewesen seien, teils weil Beweise herangezogen wurden, die aus Abhörmaßnahmen des rumänischen Geheimdienstes stammten. Seine Entscheidungen hatten insofern eine Schlagseite, als hier jeweils Urteile annulliert wurden, die schwerwiegende Fälle von Korruption ahnden sollten. Ausgangspunkt ist hier ein innerstaaatlicher Konflikt zwischen den ordentlichen Gerichten und dem Verfassungsgericht. Die Rechtsstaaatlichkeit kommt ins Spiel mit dem Argument, die richterliche Unabhängigkeit sei gefährdet, weil den Richtern ein Diszpilinarverfahren drohe, wenn sie entsprechend verführen. Der EuGH stellt nicht darauf ab, ob die Verfassungsgerichtsurteile je für sich rechtsstaatlich anfechtbar waren. Er lässt es auch nicht darauf ankommen, ob den betroffenen Richtern tatsächlich ein Diszipinarverfahren wegen Rechtsbeugung droht, obwohl diese sich auf ein besseres Recht berufen. Der EuGH nimmt vielmehr die Gelegenheit wahr, indirekt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der EZB vom 5. 5. 2020 (E 154, 17) zu reagieren und seine Version vom Vorrang des Unionsrechts zu bekräftigen (Rn. 244ff). In Rn.247 zeigt sich der Wunsch als Vater des Gedankens:

»In Rn. 21 seines Gutachtens 1/91 (EWR-Abkommen – I) vom 14. Dezember 1991 (EU:C:1991:490) hat der Gerichtshof daher festgestellt, dass der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft darstellt und dass die wesentlichen Merkmale der so verfassten Rechtsordnung der Gemeinschaft insbesondere ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen sind.«