Literatur: Armin Engländer, Norm und Sanktion – Kritische Anmerkungen zum Sanktionsmodell der Norm, RW 4, 2013, 193-207; Andreas Funke, Allgemeine Rechtslehre als Juristische Strukturtheorie, 2004; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964; Kazimierz Opalek, Der Dualismus der Auffassung der Norm in der Rechtswissenschaft, RTh 20, 1990, 433-447; Jürgen Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969; Alf Ross, Directives and Norms, 1968; Ota Weinberger, Revision des traditionellen Rechtssatzkonzepts, in: Bernd Schilcher u. a. (Hg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, 2000, 53; Georg Henrik von Wright, Norm und Handlung, 1979.
I. Die Norm als Grundbegriff der Allgemeinen Rechtslehre
Analytische Rechtstheorie zerlegt das Recht in seine Bestandteile, so wie der Chemiker die Materie in Moleküle und Atome zerlegt. Man darf zwar nie vergessen, dass das Ganze mehr ist oder jedenfalls mehr sein kann als die Summe seiner Teile. Aber wenn wir die Teile kennen, können wir oft das Ganze besser verstehen.
Welche sind die kleinsten Bestandteile des Rechts? Rudolf von Ihering (1818–1892) und viele seiner Zeitgenossen suchten die Elementarteilchen des Rechts in den Rechtsbegriffen. Im »Geist des römischen Rechts«, seinem rechtstheoretischen Hauptwerk, stellt Ihering der Jurisprudenz die Aufgabe, ein »Rechtsalphabet« zu buchstabieren. Er meinte, wie man Wörter in Buchstaben zerlegen und wieder zusammensetzen könne, so müsse auch das Recht mit einer begrenzten Zahl scharfer Begriffe beschrieben werden. Solche Analyse solle die Bausteine für die »juristische Construction« liefern (o. § 7 I 3xxx). Doch die Rechtsbegriffe sind nur Namen für Sätze. Wenn wir z.B. den Begriff der Vormerkung oder des Eigentums verwenden, so handelt es sich nur um eine Sammelbezeichnung für alle Regeln, die zusammen das Rechtsinstitut der Vormerkung oder des Eigentums ausmachen. Deshalb arbeitet die moderne Rechtstheorie nicht mit Rechtsbegriffen, sondern mit Rechtsnormen.
»Alles Recht besteht aus Normen, die ein äußeres Verhalten vorschreiben, sei es ein Tun oder ein Unterlassen …« (Nawiasky, Allg. Rechtslehre, S. 8)
Normen sind also die Elementarteilchen des Rechts. Das Recht besteht aus Normen und nur aus Normen.
Sogleich drängt sich der Einwand auf, Recht sei doch viel mehr als das abstrakte Geflecht der Normen. Die Normen seien eingebettet in weitere Schichten. Da sei zunächst die Rechtswirklichkeit, in der Normen befolgt würden oder auch nicht. Da sei ferner eine Sozialstruktur, die durch Rechtsnormen begründet oder jedenfalls befestigt werde. Und da sei eine Tiefenstruktur, die als Rechtskultur, Ideologie oder Sozialmoral angesprochen wird. Der Einwand hat Gewicht und muss doch zurückgewiesen werden. Das gilt um so mehr, als dieser Einwand meist in kritischer Absicht erhoben wird. Kritik ist billig, wenn sie nicht zuvor ihren Gegenstand sorgfältig analysiert hat. Man kann nur Schicht für Schicht herauspräparieren, und die Allgemeine Rechtslehre beobachtet nur die Schicht der Normen.
Im weiteren Sinne bezeichnet man als Rechtsnorm jeden Satz innerhalb eines autoritativen Normtextes, also eines Gesetzes, einer Verordnung usw. Schlagen wir irgendein Gesetz auf, z. B. gleich § 1 BGB. Er lautet:
Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt.
Wer wollte bezweifeln, dass es sich dabei um eine Rechtsnorm handelt? Aber es handelt sich eben doch nur um eine Rechtsnorm im weiteren Sinne. § 1 BGB ist für sich genommen eigentlich sinnlos, denn die Vorschrift ordnet weder ein Tun noch ein Unterlassen an. Nicht zufällig steht § 1 am Beginn des Allgemeinen Teils des BGB. Im Allgemeinen Teil sind diejenigen Bestandteile, die vielen konkreten Vorschriften gemeinsam sind, sozusagen vor die Klammer gezogen. Sie bilden nur unvollständige Rechtssätze, die erst in Kombination mit anderen Sätzen sagen, was zu tun oder was zu lassen ist. Die Rechtstheorie verwendet deshalb einen engeren Normbegriff. Danach sind alle Rechtsnormen als Gebote oder Verbote aufzufassen. Nur Normen, die ein bestimmtes Verhalten anordnen, sind Rechtsnormen in diesem engeren Sinne. Diese Auffassung wird als Imperativentheorie bezeichnet (u. § 38).
Man wird sogleich einwenden, dass zum Recht doch auch Prinzipien und Programmsätze gehören, Sätze also, die nicht unmittelbar ein bestimmtes Verhalten anordnen, z.B. Art. 20a GG, der dem Staat den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere aufgibt. Es wäre absurd, wenn man solche Elemente nicht als Recht akzeptieren wollte. Doch auf der operativen Ebene gibt es nur Normen im engeren Sinne. Alle anderen Elemente dienen letztlich nur der Gewinnung konkreter Gebote und Verbote.
Ein bloßes Gebot oder Verbot ist noch kein Recht. Denken wir nur an die zehn Gebote. Wie kann man religiöse, moralische Gebote oder auch bloß die Gebote von Anstand oder Mode von rechtlichen Geboten unterscheiden? »Recht und Moral« ist ein großes Thema, ja man kann die ganze Rechtsphilosophie unter diesem Thema abhandeln. Die analytische Rechtstheorie hat damit jedoch keine Probleme; oder genauer: der Zusammenhang von Recht und Moral ist nicht ihr Problem. Sie nimmt ein einfaches Kriterium zur Abgrenzung von Recht und außerrechtlichen Normen. Rechtliche Normen sind solche, deren Verletzung mit spezifischen Sanktionen geahndet wird, mit Strafe, Schadensersatzpflichten oder Erfüllungszwang. Sanktionen gibt es auch außerhalb des Rechts. Kinder werden von ihren Eltern gestraft, unfaire Fußballer vom Schiedsrichter, und Gott straft die Sünder. Die Sanktionen, die eine Norm zur Rechtsnorm machen, beziehen ihren spezifischen Charakter daraus, dass sie unter der Kontrolle der Gerichte vom staatlichen Rechtsapparat verwaltet werden.
Eine vollständige Rechtsnorm besteht aus der Kombination einer Verhaltensnorm mit einer Sanktionsnorm. Sie lautet also nicht bloß:
Du sollst nicht stehlen!
Zur Rechtsnorm wird die Norm erst in Kombination mit einem zweiten Gebot, das sich an den Rechtsapparat richtet:
Wenn jemand stiehlt, sollt ihr ihn bestrafen!
Diese engere Fassung der Imperativentheorie wird auch als Sanktionstheorie bezeichnet.
Vorläufig werden wir die Kombination von Verhaltensnorm und Sanktionsnorm zurückstellen und uns nur mit der Verhaltensnorm beschäftigen. Im Folgenden soll zunächst dieser Minimalbegriff der Norm herausgestellt werden. Anschließend wird er durch Anregungen aus der Rechtssoziologie zur Sanktionstheorie ausgebaut werden. Am Ende wird sich zeigen, dass Sanktionstheorie und Imperativentheorie nur unterschiedliche Formulierungen desselben Sachverhalts anbieten.
II. Die deontischen Modalitäten
Literatur: Jan C. Joerden, Logik im Recht, 2. Aufl., 2010, S. 195ff; Pavel Holländer/Victor Knapp, Zur Problematik des logischen Quadrats in der deontischen Logik, ARSP 77, 1991, 396-407; Juan Pablo Mañalich, Erlaubnisnormen und Duldungspflichten, RphZ 2015, 288-323; Giovanni Sartor, Legal Reasoning, 2005, Kap. 17 (Deontic Notions) u. Kap. 18 (Negation, Permission, Completeness).
Klaus F. Röhl, Praktische Rechtstheorie: Die deontischen Modalitäten, JA 1999, 600–605.
III. Hohfelds Schema der Rechte
Dazu vorläufig der Eintrag auf Rsozblog:
Hohfelds analytisches Schema der Rechte (sollte man vergessen).