§ 15 Der moralische Anspruch postmoderner Philosophie

Texte: Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991 [1989]; Michel Foucault, Dispositive der Macht, 1978; ders., Überwachen und Strafen, 1994; ders., Die Anormalen: Vorlesungen am College de France (1974-1975), 2005; Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, 4. Aufl. 1999; ders., Der Widerstreit, 1987; Gianni Vattimo, Das Ende der Moderne, 1990 [1985].

I.  Philosophische Gesellschaftskritik nach dem Ende des Marxismus

Die Postmoderne ist oder war der Kontrapunkt zur Moderne. Sie entstand als philosophische Zeitströmung Ende der 1970er Jahre und verkündete das Ende der »großen Erzählungen« von Wahrheit und Rationalität, von Fortschritt und universellen Werten. »Man kann mit Recht behaupten, daß die philosophische Postmoderne im Werk Friedrich Nietzsches entsteht.« (Vattimo S. 178). Wer noch an Wahrheit glaubt oder auf Interpretation verzichtet (»auf das Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum Wesen des Interpretierens gehört«), ist für Friedrich Nietzsche (1844–1900) kein freier Geist (Genealogie der Moral, 1887, 24).

Für die Übel der Moderne wird wesentlich deren Wissenschafts­verständnis verantwortlich gemacht. Deshalb wendet sich der Postmodernismus mit einer kritischen Epistemologie gegen den Objektivismus der herkömmlichen Wissenschaftstheorie, und deshalb wird er in diesem Kapitel über die wissenschafts­theoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft gesprochen. Die Auseinandersetzung mit der postmodernen Wissenschaftstheorie wäre allerdings einseitig, wenn nicht gleichzeitig der gewichtige moralische Anspruch zur Sprache käme.

Das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts waren das Zeitalter des Posi­tivismus. Man vertraute darauf, dass die geordnete und als Wissenschaft organisierte Beobachtung von Natur und Gesellschaft ungeachtet der immer möglichen Irrtümer und Umwege Wahrheiten aufdecken könne, die sich zu einem immer genaueren Bild von Natur und Gesellschaft akkumulieren. Nach 1945 wurde man dem Positivismus gegenüber vorsichtiger. Der kritische Rationalismus von Popper und Albert fand auch im Publikum größere Resonanz. Trotzdem blieb das Vertrauen in Rationalität und Erfahrung. In den 1960er Jahren lieferten sich Popper und seine Anhänger heftige Gefechte mit marxistischen Theoretikern, in Deutschland vor allem vertreten in der sogenannten Frankfurter Schule, für die die Namen Marcuse, Adorno und Habermas stehen. Der Marxismus hielt den Positivisten vor, dass sie durch die bloße Abbildung der Welt deren Ungerechtigkeit befestigten oder gar verstärkten. Stattdessen komme es darauf an, die Welt zu verändern. Aber das marxistische Rezept für die Verbesserung der Welt erwies sich als untauglich. Etwa ab 1968 befand sich der Marxismus daher auf dem Rückzug (und auch Habermas wurde zum Rationalisten).

Der Marxismus hinterließ eine Lücke, denn es fehlte nun eine betont kriti­sche Wissenschaft. In diese Lücke trat der Postmodernismus, ohne dass man ihn als Nachfolger des Marxismus ansehen könnte. Der Postmodernismus bezieht seinen Antrieb nicht (nur) aus dem großen Klassengegensatz und vielfältigen sozialen Diskriminierungen, sondern aus den moralischen Katastrophen des 20. Jahrhundert, allen voran dem Holocaust. Mit diesem Anliegen sind einige postmoderne Philosophen zu Klassikern der normativen Rechtsphilosophie geworden.

Für den moralphilosophischen Kern des Postmodernismus, der diese Denk­richtung für viele so anziehend macht, stehen Lyotard, Derrida, Foucault und Gianni Vattimo. Ihre Überlegungen zielen auf den Schutz des Besonderen. Man muss von der Existenz unartikulierbarer Interessen und Bedürfnisse stets wieder von neuem »Zeugnis« ablegen. Es gilt, die gesellschaftlich verdrängten Leidenserfahrungen im Medium einer anderen Sprache in Erinnerung zu rufen und die Gesellschaft für bislang ausgeschlossene Diskurse zu öffnen. Gefragt ist eine Ethik des empfindsamen Zuhörens und der Fürsorge für den Anderen.

Für die Postmoderne ist die soziale Welt eine kulturelle Konstruktion von  Geist und Text. Ihre Methode ist Dekonstruktion, die Zerstörung von Selbstverständlichkeiten und das Aufzeigen von Paradoxien. Dekonstruktion bezeichnet etwa das, was man früher radikale Kritik nannte. Das Recht bietet der Dekonstruktion breite Angriffsflächen, tritt es doch mit der Selbstgewissheit seiner Geltung, mit dem Anspruch auf logische Ordnung und Geschlossenheit, mit dem Habitus der Objektivität und Rationalität auf, um mit Besitzerstolz seine Werte und Prinzipien vorzuzeigen. Der Angriff erfolgt immer nach dem gleichen Muster. Hinter der Fassade werden Widersprüche ausgemacht, die das Gebäude zum Einsturz bringen. Zentraler Angriffspunkt postmoderner Theoretiker ist immer wieder die »Textarbeit« der Juristen. Ihr wird vorgeworfen, dass sie keine Basis habe, weil Texte ohne festen Inhalt seien, der Inhalt vielmehr durch Interpretation erst geschaffen werde. Eine beliebte Methode ist subversive Lektüre von prominenten Texten, die den Texten einen Sinn unterlegt, der das übliche Verständnis auf den Kopf stellt. Geläufige Unterscheidungen werden »unterlaufen«. Nebensächliches wird zur Hauptsache gemacht. In Wortspielen werden fernliegende Mehrdeutigkeiten ausgeschöpft (Rechtskraft wird zur Kraft des Rechts) oder es werden Neologismen gebildet (Grammatologie; différance/différend, iterabilité, supplementDerrida).

In den USA fand der Postmodernismus beinahe noch mehr Anklang als in Europa, und zwar auch bei Juristen. Den Boden bereitete hier das anfangs noch marxistisch inspirierte Critical Legal Studies Movement (u. V), dessen dritte Generation etwa ab Mitte der 80er Jahre die französischen Poststrukturalisten rezipierte. Vor allem Derrida wurde in den USA herumgereicht. Aus den USA wurde der Postmodernismus nach Europa reimportiert. Hier verbündete er sich mit philosophischer Sprachkritik, die an eine regelskeptische Interpretation Wittgensteins anknüpfte, sowie mit der Systemtheorie Luhmanns.

Heute ist der Postmodernismus auf dem Rückzug. Auch wenn der Mainstream der Wissenschaft ihm nie gefolgt ist, so hat er doch in den Sozialwissenschaften viele Anhänger gefunden und darüber den Zeitgeist der letzten 50 Jahre geprägt. Er hat nach wie vor seine Bastionen in Gender Studies und Kulturwissenschaften. Deshalb lohnt es sich immer noch, die alten Debatten zur Kenntnis zu nehmen, zumal sich viele der rechtstheoretisch aktiven Autoren auf postmoderne Philosophie berufen.

II.  François Lyotard (1924–1998)

Jean-François Lyotard ist der Theoretiker der Postmoderne. Die Moderne war das Zeitalter der Vernunft, der Aufklärung und der Emanzipation. Dem Recht brachte sie die Idee der Gleichheit und universeller Menschenrechte. Doch die Philosophen der Postmoderne halten das Unternehmen der Aufklärung für gescheitert. Seit Auschwitz ist es für sie unwiderruflich klar: Aufklärung bietet keinen Schutz gegen Unmenschlichkeit, ja sie verfügt nicht einmal über die Mittel zu einer angemessenen Wahrnehmung und Darstellung des Schreckens. Philosophie und Geschichtswissenschaft sind hier am Ende. Jeder Versuch der geistigen Auseinandersetzung muss sich daher mit einem Affekt verbinden, der sich nicht einfach in Begriffe fassen lässt und daher eine kryptische oder dichterische Sprache fordert. Paradoxien und Aporien zeigen keine Denkfehler an, sondern bezeichnen den Zustand der Welt. Die Postmoderne folgt damit Adorno auf dem Weg einer sprachlichen Subversion der Metaphysik. Die Denksysteme der philosophischen Tradition sollen unterlaufen werden, um das Abgespaltene und Ausgeschlossene freizulegen. Man will zu tieferen, fundamentalen Schichten von Leben, Intentionalität, Empfindungsvermögen und Sensibilität vordringen.

Lyotards Hauptwerk trägt den Titel »Der Widerstreit«, französisch »Le Différend«. Es verkündet das Ende der »Großen Erzählungen«, wie sie die Geschichtsphilosophie des Marxismus oder des Liberalismus beispielhaft repräsentiert haben. Damit geht für Lyotard eine Auflösung des universellen Vernunftanspruchs einher, den die Wissenschaften bislang unangetastet für sich reklamieren konnten, weil ihnen in allen geschichtsphilosophischen Konzepten stets die Rolle einer emanzipatorischen Kraft zugefallen war.

Wenn heute daher nach der Überwindung metaphysischen Denkens auch die Wissenschaft als Legitimationsquelle versiegt, dann tritt zum ersten Mal unverstellt in den Blick, dass von Haus aus keine Form des Wissens Überlegenheit für sich reklamieren kann; es stehen sich in der sozialen Wirklichkeit vielmehr stets eine Vielzahl von sprachlich artikulierten Wissensarten gegenüber, zwischen denen mit rationalen Gründen nicht zu entscheiden ist, welche einen legitimen Anspruch auf Geltung behaupten kann. An die Stelle der Wahrheit eines sprachlich artikulierten Geltungsanspruchs tritt der Erfolg, mit dem er sozial zur Vorherrschaft gelangt ist.

Sprachliche Verständigung ist ein Prozess, in dem Sätze nach bestimmten Regeln miteinander verkettet werden, um zwischen Sender und Empfänger einen Austausch zu ermöglichen. Diese Regeln sind jedoch nicht immer und überall gleich oder auch nur ähnlich. Aus der Sicht Lyotards gilt vielmehr, dass zwischen den unterschiedlichen Regelsystemen, nach denen sich jeweils die Möglichkeit der Verkoppelung von Sätzen bemisst, im Prinzip strikte Inkommensurabilität herrscht: Jedes Regelsystem oder, wie es im »Widerstreit« heißt, jede Diskursart, folgt einer Logik der Beweisführung, die mit derjenigen jeder anderen Diskursart im strengen Sinn unvereinbar ist. Was in dem einen Diskurs als Unrecht geltend gemacht wird, unter dem die Sprecher leiden, kann von den Teilnehmern des anderen Diskurses gar nicht verstanden werden. Daher kann es zwischen den verschiedenen Diskursen keine Verständigung geben; vielmehr bedeutet das Aufeinanderstoßen von zwei Sätzen, die unterschiedlichen Diskursarten angehören, in dem Sinne einen »Widerstreit«, dass zwischen ihnen ein irgendwie gearteter Vergleich nicht mehr möglich ist. Damit erlischt der Geltungsanspruch des ersten Satzes vollständig an demjenigen des zweiten, weil er in dessen Logik weder wahrgenommen noch artikuliert zu werden vermag.

Was zunächst als ein rein sprachliches Geschehen erscheint, setzt Lyotard in einen Sachverhalt mit moralischem Charakter um: Der eigentliche Fehler der Moderne, auf den postmoderne Ethik reagieren muss, ist die Verdrängung der Existenz des Widerstreits. Aus dem neutralen Umstand, dass der Geltungsanspruch einer sprachlichen Äußerung keine adäquate Erwiderung findet, wird die Tatsache eines »Unrechts«, das der nachfolgende Satz an dem vorausgegangenen oder seinem Urheber verübt.

Ein Beispiel, welches das Unrecht der Unübersetzbarkeit des einen Sprachspiels in das andere historisch belegen soll, bieten die Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungslager, deren moralische Anklagen allmählich verstummen, weil sie in der Diskursart des formalen Rechts kein angemessenes Artikulationsmedium finden. Ein anderes Beispiel geben Arbeiter, deren Protest gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen schließlich in stille Empörung mündet, weil er in der Sprache des Rechts und der ökonomischen Effizienz nicht zum Ausdruck gelangen kann. Das Wirtschafts- und Sozialrecht kann zwar den »Rechtsstreit« zwischen den Wirtschaftspartnern schlichten, nicht aber den »Widerstreit« zwischen Arbeitskraft und Kapital. Die Arbeiter werden gerade, indem es rechtmäßig zugeht, ausgebeutet. Die Berufung auf das Arbeits- und Sozialrecht nützt ihnen gegen diese rechtmäßige Ausbeutung nichts; denn das Recht regelt nur die Modalitäten der Ausbeutung. Gegen die Ausbeutung selbst könnten sie erfolgreich nur durch einen Umsturz des Rechtssystems angehen. Für solche Gedanken hat das Recht aber kein Verständnis; darüber kann es in seiner Sprache nicht reden.

Weil mit der Moderne bestimmte Diskursarten, darunter vor allem die des positiven Rechts und der ökonomischen Rationalität, zu einer institutionell gesicherten Vorherrschaft gelangt sind, bleiben andere Sprachspiele auf Dauer von der gesellschaftlichen Artikulation ausgeschlossen. Um diesen »stummen« Widerstreit der Gefahr des Vergessens zu entreißen, bedarf es einer politisch-ethischen Haltung, die der sozial verdrängten, abweichenden Seite zur Artikulation verhelfen kann.

Der moralphilosophische Kern der Überlegungen Lyotards und allgemeiner der postmodernen Philosophie unter Einschluss des Feminismus zielt auf den Schutz des Besonderen. Man muss von der Existenz unartikulierbarer Interessen und Bedürfnisse stets wieder von neuem »Zeugnis« ablegen. Es gilt, die gesellschaftlich verdrängten Leidenserfahrungen im Medium einer anderen Sprache in Erinnerung zu rufen und die Gesellschaft für bislang ausgeschlossene Diskurse zu öffnen. Gefragt ist eine Ethik des empfindsamen Zuhörens und der Fürsorge für den Anderen.

III.  Michel Foucault (1926–1984)

Texte: Wahnsinn und Gesellschaft, 1969 (Folie et déraison, 1961), 1969; Die Geburt der Klinik, 1973 (Naissance de la clinique, 1963); Die Ordnung der Dinge, 1974 (Les mots et les choses, 1966); Archäologie des Wissens (L’Archéologie du savoir, 1969): Die Ordnung des Diskurses, 1974 (L’ordre du discours, 1970); Überwachen und Strafen, (Surveiller et punir, 1975); Die Wahrheit und die juristischen Formen, 2003 (La verité et les formes juridiques, 1994); Sexualität und Wahrheit, 4 Bde (Histoire de la sexualité, ab 1976); Vorlesungen am Collège de France 1972-1985 (bei Suihrkamp in 15 Bd).

Literatur: Stéphane Boutin, Die Dramatisierung der Macht: Zur Genealogie von Foucaults Metapher der Werkzeugkiste, Le Foucaldien 1, 2015 (Internet); Hannelore Bublitz, Diskurs, 2003; dies., Diskurstheorie, in: Robert Gugutzer u. a. (Hg.), Hb Körpersoziologie Bd 1, 2016, 189-204; François Ewald, Pour un positivisme critique: Michel Foucault et la philosophie du droit, Droits 137 , 1986, 137-142; ders., Norms, Discipline, and the Law, Representations 30, 1990, 138-161; Luc Ferry/Alain Renaut, Antihumanistisches Denken. Gegen die französ. Meisterphilosophen, 1987 (Kap. 3. Der französische Nietzscheanismus (Michel Foucault) S. 81-131); Clemens Kammler u. a. (Hg.), Foucault-Hb, 2014; Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, 2005; Christian Schauer, Aufforderung zum Spiel: Foucault und das Recht, 2006; Dierk Spreen, Was bedeutet die Rede von Machtdispositiven? Zum Verhältnis von Macht und Recht nach Michel Foucault, Ästhetik & Kommunikation, 2010, 97-103.

1. Foucault als »Werkzeugkasten«

Foucault lässt sich nicht einfach einer Wissenschaftsdisziplin zuordnen. Er war studierter Psychologe, hatte am Collège de France einen Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme inne und wird heute bevorzugt in Soziologie, Politikwissen­schaft und Gender Studies zitiert. Sein großes Thema war das Dreieck zwischen sozialen Praktiken, der Ordnung des Wissens und der Formierung von Subjekten.

Foucault hat sich zwar nicht direkt an der wissenschaftstheoretischen Debatte beteiligt. In der Sache ist er aber ein Postmoderner – andere sagen Poststrukturalist – und Konstruktivist. Foucault arbeitete weitgehend essayistisch unter Verzicht auf Methode und System. Sein mit historischen Reminiszenzen gesättigter Stil entwickelt literarische Qualitäten und wird eben auch deshalb geschätzt. Seine Texte haben einen durchgehend metaphysikkritischen und rhetorischen Charakter. Foucault hat nie für sich in Anspruch genommen, eine systematische Rechtsphilosophie oder Rechtssoziologie zu entwickeln und zudem seine Einschätzung des Rechts mehrfach verändert. Er bietet eine Art Pseudoempirie oder Scheingenauigkeit, indem er – mit bewundernswerter Könnerschaft – historische Beispiele herausgreift, sie detailversessen schildert und brillant interpretiert. Damit ist Foucault zu einer Autorität der Postmoderne geworden, die auch dem Rechtsdenken eine neue Richtung gewiesen hat.

Es ist schwierig, Foucaults Gedanken kurz zusammenzufassen. Um sich mit seinem Lebenswerk vertraut zu machen, benötigt man ein ganzes Studium. Zum Glück hat er seinen Hörern und Lesern die Lizenz erteilt, sich aus seinen Texten wie aus einem »Werkzeugkasten« zu bedienen (Boutin). Für die Rechtstheorie im weitesten Sinne sind drei Werkzeuge unentbehrlich geworden, nämlich seine Diskurstheorie, seine Mikrophysik der Macht und deren Übersetzung in die Analyse staatlicher und gesellschaftlicher Makrostrukturen mit Hilfe des Gouvernemen­talitätsbegriffs.

Der Diskursbegriff ist zum Markenzeichen Foucaults geworden. Er unterscheidet sich sowohl von dem Alltagsbegriff des Diskurses als Diskussion als auch von dem Begriff, welcher der in der qualitativen Sozialforschung verbreiteten »Diskursanalyse« zugrunde liegt, vor allem aber von dem durch Habermas populär gewordenen Diskursbegriff (u. § 32 II). Der Diskurs bei Foucault ist, anders als bei Habermas, keine freie und verstän­digungs­orientierte Diskussion, denn die Teilnehmer bringen keine vordiskursive Vernunft mit, sondern gewinnen ihre Subjektivität und Identität erst aus dem Diskurs selbst. Der Diskurs ist kein Ensemble von Aussagen, sondern eine Ordnung dessen, was gesagt werden kann oder gar muss und umgekehrt, was nicht gesagt werden darf. In Diskursen werden Selbstverständlichkeiten und Wahrheiten im Sinne gültigen Wissens geformt, gefestigt und transportiert. Daraus speist sich das Bewusstsein, das dann zur Grundlage von Handlungen wird. Zusammen mit materiellen Elementen ergibt der Diskurs ein Dispositiv.

Die traditionelle Rechtssoziologie folgte einem eher technokratischen Rechtsverständnis und war darauf fixiert, dass individuelles und kollektives Verhalten repressiv durch Norm, Sanktionsdrohung und notfalls Zwang durchgesetzt wird. Sie folgte also dem Befehlsmodell des Rechts. Foucault nennt diese Herrschaft des Rechts »juridisch« und meint, sie habe sich mit dem Anbruch der Moderne überlebt. Gegen die prämoderne »juridische« Form der Macht, deutlich sichtbar in der Befehlsgewalt des Monarchen, setzt er als moderne eine subtilere, nämlich die Normalisierung und Disziplinierung der Individuen in scheinbar unpolitischen Diskursen. Im Zusammenspiel mit anderen »Diskursen« arbeitet auch das Recht am Projekt der Disziplinierung und Normalisierung von Individuen. Foucault analysierte (oder konstruierte?) Normalität als ein »Dispositiv« aus materiellen und immateriellen Elementen, dass sich im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelt haben und seit dem 19. Jahrhundert weiter ausgebildet worden sein soll. Diese Ordnung diffundiert in »Diskursen« und erfasst die Subjekte bis in ihre Körperlichkeit hinein wirksamer als explizite Gesetze und Befehle es könnten, denn das Ergebnis ist letztlich eine Selbstdisziplinierung der Menschen. In »Wahnsinn und Gesellschaft« analysierte Foucault zunächst, wie sich um die Wende zum 18. Jahrhundert in der Psychiatrie Normalitätsvorstellungen herausbildeten, die zur Wegschließung der »Anormalen« führten. In »Überwachen und Strafen« beschrieb er danach die Ablösung der Lebens- und Leibesstrafen durch ein Regime der Sicherung und Besserung der Abweichenden. Leitender Gesichtspunkt war eine »Mikrophysik der Macht«, die Frage, wie, oder vielmehr die These, dass Macht­beziehungen sich in alltäglichen und professionellen Interaktionen ständig erneuern, verändern und zu Strukturen kondensieren. Damit hat Foucault Aspekte eröffnet, die der traditionellen Rechtssoziologie, die auf Institutionen und Konflikte, auf Normen und Sanktionen fixiert war, und der ökonomischen Analyse des Rechts, die trotz gegenteiliger Beteuerungen von einem A-priori-Eigeninteresse der Individuen ausgeht, entgangen waren. Mit dem Gouvernementalitätsbegriff erweiterte Foucault die Perspektive auf auf den historischen Wandel der Staatsraison von der »Pastoralmacht« über »Polizey«, »Biomacht« und Wohlfahrtsstaat bis zum Neoliberalismus. In der »Ordnung der Dinge » ist die Rede vom »Tode des Menschen«. Daraus wird eine Kritik des Humanismus als Metaphysik der Subjektivität« (Ferry/Renaut S. 109), die auf die Diskussion um das Rechtssubjekt als Träger subjektiver Rechte ausstrahlt (u. § 84).

Die Rezeption Foucaults in den sozialkritischen Disziplinen schießt weit über das vom Meister selbst anvisierte Ziel hinaus.

»Inzwischen ist es verbreitet, den Begriff des Machtdispositivs als ein ›kritisches‹ Label zu benutzen, das man einem sozialen Gegenstand wie dem Recht aufklebt, um seinen Machtcharakter zu bezeichnen und anzuprangern. Dabei besteht die Gefahr, dass die macht- und gewaltbegrenzende Rolle des Rechts unterschlagen wird und fixierte soziale Normen und Rechtsstrukturen nur als Funktionen und Stabilisationsmechanismen der ›Macht‹ verhandelt werden.« (Spreen S. 97).

2. Biomacht und Biopolitik

Texte: Michel Foucault, Die Regierung der Lebenden, Vorlesungen am Collège de France 1979-1980, 2014; ders., Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, 2004; ders., Kritik des Regierens. Schriften zur Politik (Auswahl mit Nachwort von Ulrich Bröckling; darin die wichtigen »Vorlesungen« zur »Gouvernementalität« vom 1. 2. 1978, 17. und 31. 1. 1979, 14. und 21. 3. 1979), 2010.

Literatur: Wolfgang van den Daele, Biopolitik, Biomacht und soziologische Analyse, Leviathan 37, 2009, 52-76; ders., Freiheiten gegenüber Technikoptionen: Zur Abwehr und Begründung neuer Techniken durch subjektive Rechte, KritV 74, 1991, 257-278; Petra Gehring, Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, 2006; Vagias Karavas, Ermächtigung durch Technik? Zum Umgang mit Technikoptionen im liberal-demokratischen Rechtsstaat am Beispiel der Eizellkonservierung, Ancilla Iuris, 2019, 102-120; Thomas Lemke, Die Macht und das Leben. Foucaults Begriff der »Biopolitik« in den Sozialwissenschaften, in: Clemens Kammler/Rolf Parr (Hg.), Foucault in den Kulturwissenschaften, 2007, 135-156; Thomas Lemke, Gouvernementalität und Biopolitik, 2. Aufl., 2008; ders., Biopolitik zur Einführung, 2. Aufl., 2013;                 Dieter Sturma/Bert Heinrichs (Hg.), Hb Bioethik, 2015; Peter Wehling, Selbstbestimmung oder sozialer Optimierungsdruck? Perspektiven einer kritischen Soziologie der Biopolitik, Leviathan 36, 2008, 249-273.

Deutscher Ethikrat: Auf Beschluss der Bundesregierung wurde 2001 der Nationale Ethikrat als Forum des Dialogs über ethische Fragen in den Lebenswissenschaften konstituiert. Er sollte den interdisziplinären Diskurs von Naturwissenschaften, Medizin, Theologie und Philosophie, Sozial- und Rechtswissenschaften bündeln und Stellung nehmen zu ethischen Fragen neuer Entwicklungen auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften sowie zu deren Folgen für Individuum und Gesellschaft.  Nachfolger ist der durch Gesetz eingesetzte Deutsche Ethikrat. Dessen Internetseite bietet Stellungnahmen, Infobriefe, die Wortprotokolle der Sitzungen und hilfreiche Links. Von Interesse ist ferner die Zentrale Ethikkommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten bei der Bundesärztekammer. Über das Phänomen der Ethikräte Marion Albers, Die Institutionalisierung von Ethik-Kommissionen: Zur Renaissance der Ethik im Recht, KritV 86, 2003, 419-436.

Das Deutsche Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften gibt auf seiner Internetseite einen Überblick sowohl über die medizinischen als auch über ethische und juristische Aspekte.

Foucault hatte »Biomacht« als einen neuen Typus der Macht beschrieben, der seit dem Beginn der Moderne die alte Souveränitätsmacht weitgehend ersetzt habe. Letztere habe Produkte, Dienste und Güter der Untertanen abgeschöpft und letztlich auch über deren Leben verfügt. Das alte Recht der Souveränität »sterben zu machen oder leben zu lassen« werde mehr und mehr ergänzt oder ersetzt durch ein neues Recht »leben zu machen und sterben zu lassen« (Vorlesung vom 17. März 1973). Die neue Biomacht sei nicht mehr direkt repressiv. Sie ziele vielmehr darauf, durch Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik Lebensprozesse und Lebensgrundlagen zu verbessern. Ab der Mitte des 18. Jahrhundert habe der »gouvernementale Staat« die Bevölkerung als Gattung entdeckt und mit Hilfe von Statistik und darauf gestützter Prävention die »Regierungskunst« der Normierung und Regulierung entwickelt. Das 20. Jahrhundert habe die »Regierung des Selbst« gebracht, das heißt, Selbstbestimmung und Wahlfreiheit als Imperativ der Selbstverwertung.

Die Biomacht funktioniert über Normalisierung:

»Eine solche Macht muss eher qualifizieren, messen, abschätzen, abstufen […]. Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet. Ich will damit nicht sagen, daß sich das Gesetz auflöst oder dass die Institutionen der Justiz verschwinden, sondern daß das Gesetz immer mehr als Norm funktioniert, und die Justiz sich immer mehr in ein Kontinuum von Apparaten […], die hauptsächlich regulierend wirken, integriert. Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie.« (Der Wille zum Wissen, 1983, S. 139).

Die an Foucault anknüpfende Diskussion leidet unter dem schwierigen Machtbegriff Foucaults, schwierig deshalb, weil Macht nach dem üblichen Sprachgebrauch von Personen oder Institutionen ausgeht, während sie bei Foucault ohne Absender durch die Gesellschaft diffundiert, bis sie die Individuen von innen packt. Die Menschen übernehmen die Kategorien des Normalen und internalisieren den kontrolllierenden Blick der anderen. So erwerben sie ihre Identität bis hinein in die Sphäre der Körperlichkeit, wie sie in Diskursen und anderen sozialen Praktiken gefordert, behauptet oder unterstellt wird.

»In Wirklichkeit ist das, was bewirkt, dass ein Körper, dass Gesten, Diskurse und Begierden als Individuen identifiziert und konstituiert werden, genau eine der ersten Wirkungen der Macht; das heißt, dass das Individuum nicht das der Macht Gegenüberstehende ist, es ist, wie ich glaube, eine ihrer ersten Wirkungen. Das Individuum ist eine Wirkung der Macht, und es ist zugleich eben in dem Maße, wie es eine Wirkung ist, ein Überträger: Die Macht geht durch das Individuum hindurch, das sie konstituiert hat.« (Foucault 2010 S. 34)

Nach Foucaults Gouvernementalitätskonzept gehört daher zur Biopolitik nicht bloß staatliche Regulierung, sondern auch eine subjektlose Biomacht. Sie umfasst alle sozialen Strukturen und Prozesse, die in irgendeiner Weise auf Leben und Körper einwirken. Dazu gehören nicht zuletzt die Orientierung an Ideal- und Normalitätsvorstellungen, Selbstdisziplinierung und der nicht erzwungene Gebrauch von den zahllosen Möglichkeiten einer Optimierung von Psyche, Körper und Nachkommen.

Die Orientierung an Foucault veranlasst manche Autoren zu einem kritischen Blick auf moderne Techniken der Selbstoptimierung. Der Soziologe Ulrich Bröckling hat diese Kritik auf die einprägsame Formel vom unternehmerischen Selbst gebracht ohne dass deutlich wird, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sein könnten, es sei denn, dass Selbstoptimierung reflexiv würde in dem Sinne, dass man darauf mehr oder weniger verzichtete (Das unternehmerische Selbst, 2007).

Hinsichtlich der Biopolitik im engeren Sinne, also der Regulierung medizinischer und gentechnischer Forschung und Praxis, gerät die Anknüpfung bei Foucault zu einer Metakritik der institutionalisierten philosophisch-ethischen Diskurses der Bioethik. Zunächst machte Petra Gehring geltend, einschlägige Ethikdebatten, wie sie in den staatlich eingerichteten Ethikkommissionen stattfinden, stünden im Zeichen der Dringlichkeit. Alle Argumente würden in das Schema von Pro und Contra gezwängt. Damit sei der Blick für die Hintergründe der Probleme verstellt. Es gehe nur noch um Entscheidungshilfen für die Politik. Wehling und Lemke verstärken dieKritik mit dem Einwand, dass der Ethikdiskurs die kulturelle und politische Brisanz der neuen Biotechniken verfehle, weil er Hintergründe und Antriebskräfte der technologischen Entwicklung ausspare; soweit die Sozialwissenschaften um Rat gefragt würden, würden sie zu einer bloßen Hilfswissenschaft degradiert. Alle drei kritisieren die Art, wie in der Ethikdebatte das Prinzip der Selbstbestimmung vorausgesetzt werde, ohne zu prüfen, »wer in welchem Umfang über die materiellen und intellektuellen Ressourcen verfügt, um tatsachlich von bestimmten technologisch-medizinischen Angeboten Gebrauch zu machen und welchen gesellschaftlichen Zwängen und institutionellen Erwartungen die Einzelnen bei der Wahrnehmung der Optionen unterliegen « (Lemke 2007 S. 154). Van den Daele hat diese Einwände, mit denen »man von der Oberfläche zu den Tiefenstrukturen der Gesellschaft vordringen soll«, als eine »Hermeneutik des Verdachts« zurückgewiesen. Vor allem aber hat er betont, dass »die Kritiken, die aus den Biomacht-Analysen gegen die modernen Biotechniken abgeleitet werden, ganz überwiegend auf dieselben Gefahren- und Missbrauchsszenarien hinaus[laufen], die im institutionellen Politikfeld der Biopolitik immer schon diskutiert werden« (S. 55).

IV.  Jacques Derrida (1930–2004)

Texte: Walter Benjamin, Zur Krtitk der Gewalt, 1921/1922, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204; Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991; ders., Grammatologie, 1993.

Literatur: Simon Critchley, The Ethics of Deconstruction, 1992; ders., Habermas und Derrida werden verheiratet, DZPhil 42, 1994, 1025-1036 (zu Honneth 1994); Uwe Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 1999; Petra Gehring, Gesetzeskraft und mystischer Grund. Die Dekonstruktion nähert sich dem Recht, in: Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels (Hg.), Einsätze des Denkens, Zur Philosophie von Jacques Derrida, 1997, 226-255; Christian Hoffstadt, Was ist Dekonstruktion?, o. J. (eine vorbildliche Masterarbeit); Axel Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die ethische Herausforderung der Postmoderne, Deutsche Zf Philosophie 42, 1994, 1995-220; Christoph Menke, Für eine Politik der Dekonstruktion. Jacques Derrida über Recht und Gerechtigkeit, Merkur 47, 1993, 65-69 (kurze und gute Zusammenfassung und Einordnung); Jack Reynolds/Jon Roffe (Hg.), Understanding Derrida, 2004; Cornelia Vismann, Das Gesetz »DER Dekonstruktion«, Rechtshistorisches Journal 11, 1992, 250; Florian Hoffmann/Cornelia Vismann (Hg.), A Dedication to Jacques Derrida, German Law Journal, Sonderheft 1, 2005; darin Cornelia Vismann, Derrida, Philosopher of Law, 5-13.

Jacques Derrida ist der Meister der Dekonstruktion. Dabei handelt es sich um die gezielte Verunsicherung beim Gebrauch der üblichen Begriffe mit Hilfe einer Doppelstrategie. Auf der einen Seite wird die Autorität des Rechts »dekonstruiert«, indem seine Geltungsgrundlage als paradox »entlarvt« wird. Auf der anderen Seite werden einschlägige Texte »listig« oder »subversiv« gelesen, sie werden sozusagen gegen den Strich gebürstet, um zu zeigen, dass sie nicht leisten, was sie zu leisten vorgeben, dafür aber auf Schritt und Tritt unkontrollierbare Sinnbezüge mitführen und manchmal sogar das Gegenteil von dem »bedeuten«, was sie sagen wollen. Die Überschrift ist Programm: »Gesetzeskraft« (Force de loi) meint ebenso das unbefangene Rechtsvertrauen wie das Misstrauen gegen die in Rechtsform gehüllte Gewalt.

Derrida behandelt zwei alte rechtsphilosophische Themen, nämlich erstens die Allgemeinheit des Gesetzes und die Singularität des konkreten Falles sowie zweitens die Frage, wie sich die mit dem Recht verbundene Gewalt begründen lässt, wo es doch Aufgabe des Rechts wäre, die Menschen vor Gewalt zu schützen. Derridas Antwort lautet: Die Kritik des Gesetzes ist genau so weit berechtigt und notwendig, wie sie im Namen der »Unendlichkeit« vorgetragen wird, die mit der Idee der Gerechtigkeit unlösbar verbunden ist. Die »Forderung nach unendlicher Gerechtigkeit« ist keine Überforderung der Gerechtigkeit, weil sie nichts anderes als die »unendliche Forderung der Gerechtigkeit« selbst ist. Ihre Logik ist die einer permanenten Überschreitung aller Diskurse und Begründungen. Die Erfahrungen der Gerechtigkeit sind die »jener Augenblicke, da die Entscheidung zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten von keiner Regel verbürgt und abgesichert wird«. Wie das?

Zur Dekonstruktion gehört das Aufzeigen von Widersprüchen oder Aporien. So benennt denn auch Derrida drei Aporien des Rechts. Die erste Aporie hat damit zu tun, dass eine moralische Entscheidung eine freie Entscheidung sein müsste. Folgt die Entscheidung der Regel, ist sie aber nicht mehr frei. Folgt sie der Regel aber aus freiem Entschluss, so tut sie etwas zu der Regel hinzu. Die zweite Aporie soll darin bestehen, dass jede Entscheidung durch die Erfahrung der Unentscheidbarkeit hindurchmuss. Jedem Entscheidungs-Ereignis, so sagt Derrida, wohne das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne. Damit meint er wohl, dass man nie sicher sein kann, dass die Gründe, mit denen eine Entscheidung gerechtfertigt wird, auch die wahren Gründe sind, die die Entscheidung verursacht haben. Die dritte Aporie hat etwas mit der Zeit zu tun. Wirklich gerecht wäre nur die Entscheidung, die sofort zu haben wäre. Dann könnte sie aber keine informierte und begründete Entscheidung sein und wäre aus diesem Grunde ungerecht.

Derrida wendet sich gegen zwei vorschnelle Antworten. Er wendet sich gegen die Pragmatiker, die mit dem Pathos der Utopieentlarvung die Gerechtigkeit der Gesetze von ihrer unendlichen Forderung entlasten wollen. Das wären also die Leute, die sagen, Gerechtigkeit in jedem einzelnen Fall sei sowieso unerreichbar, deshalb solle man gleich darauf verzichten. Er wendet sich aber auch gegen jene Idealisten, die der »unendlichen« Gerechtigkeit unter den endlichen Bedingungen ihrer rechtlichen Institutionalisierung keine Chance geben. Beide machen denselben Fehler, ganz gleich, ob sie das Gesetz entlasten oder abschaffen wollen. Beide gehen davon aus, dass der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit »sich festigen« lässt. Die Grenzen sind jedoch nicht klar gezogen, sondern befinden sich in einem »zweideutigen und zweifelhaften Gleiten«. Deshalb ist es für Derrida die Dekonstruktion, und allein die Dekonstruktion, die der komplizierten Bewegung zum Ausdruck verhilft, die die Gerechtigkeit mit dem Recht ebenso verbindet wie von ihm trennt. »Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit«, denn sie »findet hier, zwischen Recht und Gerechtigkeit, ihr bevorzugtes Ungleichgewicht«.

Mit der Dekonstruktion des Unterschieds von Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit im Vollzug des Rechts öffnet sich das Recht einem »unendlichen Prozess«. Gerichtet gegen das »gute und ruhige Gewissen«, das »dogmatisch bei dieser und jener überkommenen Bestimmung der Gerechtigkeit stehenbleibt«, zielt er darauf, »die Grundlagen des Rechts, die aus einer schon erfolgten Berechnung und Abgrenzung resultieren, erneut in Erwägung zu ziehen und folglich neu zu deuten«. Ziel ist das »irreduktible Wetteifern« um eine immer bessere Verwirklichung der Gerechtigkeit, die aber »niemals zu einem Abschluss kommen« kann und darf.

Die Liaison zwischen Systemtheorie und Dekonstruktivismus behandelt Gunther Teubner in dem Aufsatz »Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit: Gegenseitige Heimsuchungen von System und différance«, in: Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 199-212. Teubner weist die »von Systemtheoretikern bevorzugte selektive Einbautechnik, die dekonstruktive Bruchstücke der différance, der itération, der trace, der marge in die Fassaden autopoietischen Begriffspaläste dekorativ einfügt« zurück, obwohl er selbst an solchen Einbauten beteiligt ist. Sie sei sicher reizvoll, führe »aber letztlich nur zu einer Komplexifizierung, zu einer Involution der Theoriearchitektonik, ohne ihre grundlegenden Bauprinzipien zu verändern«. Teubner stellt stattdessen seine eigene Lesart vor, »die eine paranoide Dynamik zwischen den Theorien aufdeckt, eine Dynamik ihrer wechselseitigen Verfolgungen«. Dabei entgeht er selbst der »Komplexifizierung« nicht. Aber wer an Teubners Paradoxologie Spaß hat, kommt bei der Lektüre auf seine Kosten. Der operative Umgang mit Paradoxien ist die deutsche Version der Dekonstruktion (Somek, Haben Sie heute schon dekonstruiert?, RTh 26, 1995, 201/204).

In der Idee der »Politisierung« des Rechts scheint sich die Dekonstruktion bis zur Ununterscheidbarkeit dem Projekt einer »klassisch emanzipatorischen« Theorie und Praxis anzunähern. Aber die Übereinstimmung geht nur soweit, dass Derrida die Dekonstruktion von dem Vorwurf des Nihilismus befreien will. Derrida besteht darauf, dass Bewertungen vorgenommen und Entscheidungen gefällt werden müssen, wofern nur begriffen wird, dass sie durch eine Erfahrung des Unentscheidbaren hindurchzugehen haben. Für den Übergang von der »Erfahrung« der Gerechtigkeit zum Werk der Politik spricht Derrida in Anlehnung an Kierkegaard vom »Wahn der Entscheidung« (S. 54).

V.  Critical Legal Studies Movement (CLS)

Literatur: Alan Hunt, The Theory of Critical Legal Studies, Oxford Journal of Legal Studies 6, 1986, 1-45;; Mark Kelman, A Guide to Critical Legal Studies, 1987;; Peter Fitzpatrick/Alan Hunt (Hg.), Critical Legal Studies, 1987 (= Journal of Law and Society, 1987, 1-197); Samuel Moyn, Reconstructing Critical Legal Studies, SSRN 2023, 4531492. Aus deutscher Sicht Günter Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc., in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 97-116; Christian Joerges/David M. Trubek (Hg.), Critical Legal Thought, An American-German Debate, 1989 (neu veröffentlicht mit einer Einführung von Joerges, Trubek und Zumbansen als German Law Journal 12, 2011, Nr. 1); Roberto M. Unger, The Critical Legal Studies Movement, 1986; Beiträge in dem Sonderheft »Critical Legal Studies Symposium«, Stanford Law Review 36, 1984, 1-674 (dort eine gute Einführung und Übersicht von Alan C. Hutchinson/Patrick J. Monahan, Law, Politics, and the Critical Legal Scholars: The Unfolding Drama of American Legal Thought, S. 199-245).

Das CLS fällt durch seine Radikalität, Pluralität und literarische Produktivität gleichermaßen auf. Die Bewegung ging in den 1960er aus den Law Schools von Madison und Yale hervor. Sie wollte das Recht von gesellschaftstheoretischen Ansätzen her begreifen und stützte sich dafür auf den Marxismus und seine Revisionen und auf ein Sammelsurium von kritischer Theorie, Max Webers Analyse der Moderne, französischem Strukturalismus und Poststrukturalismus. Ihr Credo: Alles Recht ist politisch; es bleibt trotz aller Texte unbestimmt.

Die Eroberung der amerikanischen Crits durch die Franzosen fand auf einem bald sagenhaften Symposium »The Languages of Criticism and the Sciences of Man« statt, auf dem unter anderen Roland Barthes, Jan Lacan und Jacques Derrida auftraten (Richard Macksey/Eugenio Donato (Hg.), The Structuralist Controversy. The Languages of Criticism and the Sciences of Man, 1967; Jubiläums-Nachdruck 2007.) Dort ging es um die Frage: Welcher und wieviel Strukturalismus? Mit diesem Symposium begann das »hegemoniale Gehabe« von Derridas Dekonstruktivismus (Robert C. Holub, Zur amerikanischen Rezeption der Rezeptionsästhetik, in: Frank Trommler (Hg.), Germanistik in den USA, 196-220, S. 198).

Die CLS führten auf dieser Grundlage über Soziologie i. e. S. hinaus zu sozialphilosophischer Rechtskritik, insbesondere zu einer Kritik der liberalen Sozialphilosophen und der von diesen bevorzugten Institutionen, und zur Suche nach neuen gesellschaftspolitischen und rechtlichen Leitvorstellungen. So wurden die CLS zum Auffangbecken »kritischer« Rechtstheorie, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten als feministische Rechtstheorie, Critical Race Theory, Post-Colonial Studies oder Queer Theory firmiert.

Das CLS Movement hat sich praktisch aufgelöst. Es bleibt die Frage des Philosophen Stephen Lukes »What Is Left?«. Vieles, was vor 50 Jahren kritisch, oppositionell oder geradezu revolutionär klang, ist heute beinahe schon zum Mainstream geworden. Zwar lässt sich insoweit schwerlich eine Kausalität der kritischen Rechtstheorie behaupten. Aber ähnlich wie die Wirkungsforschung für Soziologie und Politikwissenschaft das Diffundieren vieler Ideen im Laufe einer Generation beobachtet, kann man wohl doch auch manche Ideen der Rechtskritik der 70er und 80er Jahre in der aktuellen Rechtspolitik und Rechtsdogmatik – wie abgeschwächt oder verfälscht auch immer – wiedererkennen.

Aus dem Spektrum der CLS-Bewegung haben sich insbesondere der queertheoretische Femnismus, die kritische Rassentheorie und die kolonialkritische Bewegung entwickelt.