Literatur: Robert M. Cover, The Bonds of Constitutional Interpretation, Georgia Law Review 20, 1986, 815-833; Walter B. Gallie, Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56, 1956, 167-198; Giulio Fornaroli, Is There Moral Magic in the Word ›Right‹?, Law and Philosophy, 2021, 304-325; Andreas Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004 (S. 145ff); Ernst-Joachim Lampe, Was ist ›Rechtspluralismus‹?, in: ders. (Hg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, 8-33; Brian Leiter, The Demarcation Problem in Jurisprudence, Oxford Journal of Legal Studies 31, 2011, 663-677; Werner Maihofer (Hg.), Begriff und Wesen des Rechts 1973; Dietmar von der Pfordten, Was ist Recht?, Zf philosophische Forschung 63, 2009, 173-200; Frederick F. Schauer, On the Nature of the Nature of Law, ARSP 98, 2012, 457-467; Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 1911; Gerhard Struck, Recht als Tohuwabohu und als Menschheitstraum. Oder: Gibt es einen Begriff des Rechts?, Ancilla Juris 2009, 99-117; Brian Z. Tamanaha, Artikel »Law« in: Oxford International Encyclopedia of Legal History, 2009; Dietmar von der Pfordten, Artikel »Begriff des Rechts«, EzRPh, 2011; Michael Young, In Defense of Minimal, Naive Natural Law, 2010, SSRN 1731330.
I. Die inhärente Normativität des Rechtsbegriffs
Die traditionelle Allgemeine Rechtslehre war darum bemüht, Grundbegriffe des Rechts aus dem Rechtsbegriff abzuleiten. Stammler (S. 46f) hielt ihr entgegen, dieses Vorgehen sei zirkulär, denn der Rechtsbegriff werde aus der Betrachtung des Rechts gewonnen, bei dieser Betrachtung aber schon vorausgesetzt. Daher bemühten sich Gustav Radbruch und andere um eine Rechtserkenntnistheorie, um dem Rechtsbegriff eine apriorische oder transzendentalphilosophische Grundlage zu geben. Unser Ausgangspunkt war die Behauptung des Philosophen Wittgenstein, viele der großen Probleme der Schulphilosophie beruhten schlicht auf einer Verwirrung der Sprache. Vermutlich hat Wittgenstein recht. Aber wir dürfen uns dadurch nicht zu der Annahme verleiten lassen, es komme nun darauf an, eine möglichst präzise Sprache aufzubauen. Die Vagheit der Sprache ist allenfalls ganz am Rande Wittgensteins Problem. Er geht vielmehr davon aus, dass Sprachspiele in aller Regel gelingen. Eine wirklich präzise Sprache ist nicht möglich, aber zum Glück auch gar nicht nötig. Eine Definition des Rechts ist, wenn nicht überflüssig, so doch ziemlich unwichtig. Man kann den Rechtsbegriff in den meisten Zusammenhängen unscharf lassen und sich darauf beschränken, das Gemeinte bei Bedarf zu präzisieren. Es kommt nicht darauf an, den einzig wahren Rechtsbegriff zu finden, den es gar nicht geben kann. Wir wollen vielmehr nur unseren Sprachgebrauch festlegen, so dass die erwartete Antwort nicht richtig oder falsch sein kann, sondern nur mehr oder weniger zweckmäßig.
Inzwischen hat sich unser Standpunkt, dass eine verbindliche oder abschließende Rechtsdefinition weder möglich noch notwendig sei, besonders auch in den USA durchgesetzt. Von Brian Leiter kommt eine interessante Begründung: Der Rechtsbegriff sei ein artifact concept, was sich wohl am besten als Kulturphänomen übersetzen lässt. Das Argument lautet dann, dass Kulturphänomene – und damit das Recht – sich einer Wesensdefinition entziehen, weil sie von den wechselnden Zielen und Zwecken der Menschen abhängig sind. Das legt die Analogie zu Wissenschaft und Kunst nahe, die ähnliche Definitionsprobleme bereiten (u. § 9 III).
Frederick Schauer schlägt vor, die endlose Diskussion über den Rechtsbegriff dadurch zu beenden, dass man das Recht als cluster concept auffasst. Das Cluster-Konzept entspricht der Familienähnlichkeit Wittgensteins (o. § 3 IX). Darauf wollte schon Lampe mit seiner typologischen Begriffsbestimmung zurückgreifen. Struck wiederum meint, bei der Familienähnlichkeit handele es sich nur um eine gutgewählte Metapher.
Will man an die philosophische Diskussion anknüpfen, so ist »Recht« ein essentially contested concept (Gallie), nämlich ein Begriff, der von verschiedenen Theorien unterschiedlich verwendet wird, von Theorien, die sich wechselseitig zwar bekämpfen, aber nicht (völlig) ausschließen, so dass man nicht zwischen richtig oder falsch entscheiden kann (o. § 6 VIII). Gallies Beispiele sind Religion, Kunst und Demokratie. Seine Kriterien passen auch auf das Recht.
Die wesensmäßige Umstrittenheit des Rechtsbegriffs folgt daraus, dass er inhärent normativ ist. Die Reduzierung des Rechtsbegriffs auf positives Recht ist der Versuch, die Normativität zugunsten einer empirisch analytischen Rechtsanalyse auszuklammern. Doch die normativen Konnotationen sind so stark, dass sie sich nie ganz verdrängen lassen (Cover). Das gilt auch für unsere grundsätzlich positivistisch orientierte Allgemeine Rechtslehre. Sie lässt viele Fragen offen und bietet so am Ende doch Raum für moralisch oder gar naturrechtlich gefärbte Antworten. So lässt sich z. B. der positiv technische Begriff der Rechtsgeltung an eine Moral im Sinne eines »Naturrechts mit historisch wandelbarem Inhalt« rückbinden (u. S. Fehler! Textmarke nicht definiert.). Man spricht von der Historizität des Rechtsbegriffs.
II. Der Rechtsbegriff der Allgemeinen Rechtslehre
Gesucht wird eine Nominaldefinition. Sie ist zweckmäßig, wenn sie den Gegenstandsbereich der Allgemeinen Rechtslehre klar von anderen Erscheinungen abgrenzt und wenn sie sich nicht weiter als notwendig von den zentralen Vorstellungen entfernt, die der Sprachgebrauch mit dem Wort Recht verknüpft. Fragt man Juristen nach ihrer Definition des Rechts, so wissen sie recht gut, jedenfalls was als (positives) Recht in Betracht kommt, nämlich (im nationalen Recht) Gesetze, Verordnungen und Satzungen, Gewohnheitsrecht und mit Einschränkungen auch Präjudizien und juristische Lehrmeinungen. Die skeptische Fußnote Kants, noch immer suchten die Juristen nach ihrem Begriff des Rechts, ist nur zutreffend, wenn man die Gerechtigkeit in den Rechtsbegriff hineinnimmt. Das hat niemand besser formuliert als Kant selbst in seiner »Metaphysik der Sitten« (Einleitung in die Rechtslehre, § B):
»Was ist Recht?
Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologie verfallen, oder, statt einer allgemeinen Auflösung, auf das, was in irgend einem Land die Gesetze zu irgend einer Zeit wollen, verweisen will, ebenso in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit? den Logiker. Was Rechtens sei (quid sit iuris) d. i. was die Gesetze in einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er noch wohl angeben, aber, ob das, was sie wollen, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeitlang jene empirischen Prinzipien verlässt, die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft sucht (wiewohl ihm dazu jene Gesetze vortrefflich zum Leitfaden dienen können), um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten. Eine bloß empirische Rechtslehre ist, (wie der hölzerne Kopf in Phädrus‘ Fabel)[1] ein Kopf, der schön sein mag, nur schade, dass er kein Gehirn hat.«
Kant unterscheidet hier zwischen einem Rechtsbegriff, der auf die Frage »Was ist Rechtens?« (quid sit iuris?) antwortet, und einem anderen, der uns vor die Frage stellt »Was ist das Recht?« (quid sit ius?). Die erste Frage »nach dem, was die Gesetze in einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben«, moderner formuliert, die Frage nach dem positiven Recht, hält Kant offenbar für relativ unproblematisch, aber auch für unwichtig. Alles scheint auf die zweite Frage, die Frage nach dem Wesen des Rechts, oder, wie man auch sagen kann, auf die Frage nach der Gerechtigkeit, anzukommen. Aber diese Frage überlassen wir der Rechtsphilosophie. Die Allgemeine Rechtslehre befasst sich mit dem Holzkopf, doch sie weiß das.
Wichtig ist an dieser Stelle allein, dass Gerechtigkeit und Moral aus dem Rechtsbegriff herausgehalten werden, nicht, weil sie gering zu schätzen sind, sondern weil es unzweckmäßig wäre, die Probleme zu vermengen. Unsere Allgemeine Rechtslehre ist bemüht, einen positivistischen Rechtsbegriff durchzuhalten. Nichtjuristen haben damit ein Problem, weil sie ein unreflektiertes »naives« Naturrecht im Kopf haben. Und damit liegen sie gar nicht so falsch (Young). Man kommt auch nicht daran vorbei, dass die Berufung auf »das Recht« oder »ein Recht« magische Anziehungskräfte und Ausstrahlung besitzt (Fornaroli). Das ist die normative Kraft des Rechtsbegriffs. Doch die Trennung von Moral und Recht oder umgekehrt die Frage nach der Notwendigkeit einer moralischen Begründung des Rechts ist ein Grundproblem der Rechtsphilosophie, das sich nicht mit definitorischen Mitteln lösen lässt.
Eine Definition ist, wie gesagt, nicht besonders wichtig. Aber da sie nun einmal erwartet wird, zitieren wir die eigene Formulierung eines monistisch-positivistischen Rechtsbegriffs:
»Als Rechtsnormen können … diejenigen Normen bezeichnet werden, die von einem speziellen Rechtsstab angewendet werden, der innerhalb territorialer Grenzen für sich die Kompetenz-Kompetenz in Anspruch nimmt und diese im Wesentlichen auch faktisch durchzusetzen in der Lage ist.«
Den »speziellen Rechtsstab«, von dem hier im Soziologenjargon die Rede ist, bilden die Gerichte. Die Gerichte haben das letzte Wort, und deshalb bezeichnen wir als Recht diejenigen Normen, die die Gerichte anerkennen oder vermutlich anzuerkennen bereit sind. Man kann diesen Rechtsbegriff auch als institutionell charakterisieren, weil er das Recht an die Institution der Gerichte bindet.
Vorbild ist insoweit ein institutioneller Kunstbegriff, wie ihn George Dickie entwickelt hat (Defining Art, 1969; The New Institutional Theory of Art, Proceedings of the 8th Wittgenstein Symposium 10, 1983, 57-64). Dickie berief sich dabei wohl unzutreffend auf Arthur C. Dantos berühmten Aufsatz »The Artworld« (Journal of Philosophy, 61, 571-584, deutsch: Die Kunstwelt, Zf Philosophie 42, 1994, 907-919).
Die Zweckmäßigkeit gerade dieser Definition soll sich im Verlaufe unserer Allgemeinen Rechtslehre bewähren. Ob man im Zeitalter der Globalisierung weiterhin auf territoriale Grenzen und damit auf einen staatlichen Rechtsbegriff abstellen soll, ist allerdings problematisch. Kaum weniger intensiv wird heute die Frage ausgetragen, ob der Rechtsbegriff monistisch-staatlich als ein Entweder-Oder-Phänomen zu bestimmen sei – wie es hier weitgehend geschieht (u. xxx) – oder ob nicht vielmehr Rechtspluralismus (u.xxx) und Soft Law (u. xxx) nach einem graduellen Rechtskonzept verlangen.
[1] Phädrus’ Fabel nach Aesop (Phaedri fabulae Aesopiae):
Vulpis ad personam tragicam
Personam tragicam forte vulpes viderat: »O quanta species« inquit, »cerebrum non habet!« Hoc illis dictum est quibus honorem et gloriam fortuna tribuit, sensum communem abstulit.