§ 104 Rechtskraft und präjudizielle Wirkung

Literatur: Lars  Brocker/Kai-Oliver Knops, Die Präjudizienvermutung als methodologisches Prinzip, Jura 1993, 300-302; Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 2, 1975, 58 ff.; Andreas Heldrich, 50 Jahre Rechtsprechung des BGH – auf dem Weg zu einem Präjudizienrecht?, ZRP 2000, 500; Peter Krebs, Die Begründungslast, AcP 195, 1995, 171-211; Klaus Lange, Rechtskraft, Bindungswirkung und Gesetzeskraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, JuS 1978, 1; Katja Langenbucher, Rechtsprechung mit Wirkung für die Zukunft, JZ 2003, 1132; dies., Recht und Zeit – Eine Untersuchung zur Wirkung von Rechtsprechungsänderungen im Privatrecht, ARSP Beih. 104 (2004), 55; dies., Vertrauensenttäuschung durch Rechtsprechungsänderungen im deutschen und im englischen Privatrecht, in: FS für Norbert Horn, 2006, 1179; Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997; Friedrich E. Schnapp/Sandra Henkenötter, Zur Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG, JuS 1994, 121; Michael Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977; Horst Schlehofer, Der Verbrauch der Strafklage, GA 144 (1997), 101; Jan Ziekow, Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Jura 1995, 522.

I. Konsistente Rechtsprechung

I.        Tatsachenfeststellungen und Erfahrungssätze in Urteilen

III.        Subjektive und objektive Rechtskraft

VI.        Grenzen der Rechtskraft und Vorlagepflichten

V.        »Fehlurteile«

Literatur: Kyriakos N. Kotsoglou, Das Fehlurteil gibt es nicht. Zur Aufgabe des Tatrichters, JZ 2017, 123–132; Merkl, Adolf Julius: Die Lehre von der Rechtskraft, 1. Auflage, Leipzig 1923. Klecatsky, Hans, and Adolf Julius Merkl. „Justizirrtum und Rechtswahrheit.“ Zeitschrift für Strafrechtswissenschaften 45 (1925): 452-465. Nina Schrott, Fehlleistungen im Recht?! – Von (Entscheidungs-)Gespenstern und prozessualen Geisterschiffen, in: Kristina Peters/Nina Schrott, Eine Theorie von der Wissenschaft des Rechts, 2023, 157–187. Zugleich eine Erwiderung auf Kotsoglou, JZ 2017, 123 sowie eine (teilweise) Reaktivierung der Merklschen Lehre vom Fehlerkalkül

Urteile und Beschlüsse, die von regelrechten Gerichten erlassen wurden, sind grundsätzlich niemals nichtig, auch wenn sie fehlerhaft sind, sondern müssen ggfs. mit Rechtsmitteln angefochten werden.

VI.        Präjudizielle Wirkung

VII.        Präjudizienbindung im anglo-amerikanischen Rechtskreis

VIII.        Fallvergleich (Distinguishing)

Literatur: Scott Brewer, Exemplary Reasoning: Semantics, Pragmatics, and the Rational Force of Legal Argument by Analogy, Harvard Law Review 109, 1996, 923-1028; Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201; Fritjof Haft, Falldenken statt Normdenken, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.), Der deutsche Sprachgebrauch, Bd. II, 1981, 153-161; Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999; Grant Lamond, Do Precedents Create Rules?, Legal Theory 11 , 2005, 1-26; ders, Precedent and Analogy in Legal Reasoning, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2016; Ralf Poscher, The Hermeneutics of Legal Precedent, SSRN , 2022, 4042864; Frederick Schauer, Thinking Like a Lawyer, A New Introduction to Legal Reasoning, 2009; Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016.

Eine Grundlage für diesen Abschnitt bildet eine Reihe von Einträgen auf Rsozblog, geginnend mit Die Analogie als Entdeckungsverfahren und Gleichmacher vom 13. April 2022.

Jede Bezugnahme auf ein Präjudiz fordert einen Fallvergleich. Das geringe Ansehen von Präjudizien hat zur Folge, dass deutsche Juristen die Kunst des Fallvergleichs (distinguishing) vernachlässigen. Bei einem Präjudiz denken sie an den »Leitsatz« eines Urteils, wie er hierzulande oft von den Richtern selbst oder von Kommentatoren formuliert wird. Damit liefe jede Befolgung eines Präjudizes auf die Übertragung einer Regel hinaus. So klingt es, wenn Edward H. Levi, ein Klassiker der amerikanischen Jurisprudenz, die Case-Law-Methode beschreibt:

»The basic pattern of legal reasoning is reasoning by example. It is reasoning from case to case. It is a three-step process described by the doctrine of precedent in which a proposition descriptive of the first case is made into a rule of law and then applied to a next similar situation. The steps are these: similarity is seen between cases; next the rule of law inherent in the first case is announced; then the rule of law is made applicable to the second case.« (An Introduction to Legal Reasoning, University of Chicago Law Review 15, 1948, 501-574, S. 501f.)

Aber Levis Formulierung ist ambivalent. Einerseits wird dem Präjudiz eine Regel entnommen, die auf den neuen Fall angewendet wird. Andererseits ist der neue Fall ein »ähnlicher« Fall. Auf Ähnlichkeit kommt es aber nicht mehr an, wenn man eine Regel hat. So ist denn heftig umstritten, ob die Präjudizienbindung nur durch Fallvergleich oder durch die Übernahme einer im Präjudiz implizit enthaltenen Regel realisiert wird. Anhänger der Regeltheorie nehmen an, dass man einem Präjudiz nur dadurch folgen kann, dass man die ratio decidendi, das holding des Präzedenzfalles, zur Regel = Rechtsnorm abstrahiert und auf den neuen Fall anwendet. Mit einer Formulierung von Robert Alexy:

»Die Verwertung eines Präjudizes bedeutet die Verwertung der der präjudiziellen Entscheidung zugrunde liegenden Norm.« (Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 336).

Das ist der Standpunkt der Analogieskeptiker, die keine reine oder originäre Analogie akzeptieren.

Zu diesen zählen u. a. Larry Alexander, Constrained by Precedent, Southern California Law Review 63, 1989, 1-64; Larry Alexander/Emily Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, 2008; Ronald M. Dworkin, In Praise of Theory, Arizona State Law Journal 29, 1997, 353-376, S. 371: »An analogy is a way of stating a conclusion, not a way of reaching one, and theory must do the real work.«; Melvin Aron Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 83f: »Reasoning by analogy differs from reasoning from precedent and principle only in form. … Cases are not determined in the common law simply by comparing similarities and differences.«; Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Reprinted., 2003,(1978); S. 161, 186; Richard A. Posner, Overcoming Law, 1995, S. 177, 519f; Kent Greenawalt, Law and Objectivity, 1992, S. 200; Peter Westen, On »Confusing Ideas«: Reply, Yale Law Journal 91, 1982, 153-1165, S. 1163: »One can never declare A to be legally similar to B without first formulating the legal rule of treatment by which they are rendered relevantly identical.«; Frederick F. Schauer, Playing by the Rules, A Philosophical Examination of Rule-Based Decision-Making in Law and Life, 1991; ders., Thinking Like a Lawyer, A New Introduction to Legal Reasoning, 2009 (S. 85ff).

Die traditionelle Auffassung geht jedoch dahin, dass ein unmittelbarer Fallvergleich grundsätzlich möglich ist. Prüfstein ist das »nackte« Urteil, das heißt ein Urteil nur mit Tatbestand ohne Begründung. Auch ein »nacktes« Urteil taugt zum Präjudiz. Urteilsgründe braucht man nur, wenn der aktuelle und der Altfall nicht gleich erscheinen. Dann liegt es ähnlich wie bei einem Gesetz, dass sich von seinem Wortlaut her nicht zweifelsfrei anwenden lässt. Das Gesetz muss ausgelegt und analog muss das Präjudiz interpretiert werden. Es kommt also darauf an, ob die Fälle gleich oder nur ähnlich sind. Der Analogieskeptiker wird geltend machen: Keine zwei Objekte sind völlig gleich und ebenso wenig weisen zwei Objekte gar keine Ähnlichkeit auf. Er schließt daraus, dass die Unterscheidung zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit beliebig sei und die Analogie als selbständige Argumentation entsprechend wertlos. Analogiker wie z. B. Weinreb erwidern: Die Fähigkeit, Muster zu erkennen, und so zwischen passend und unpassend, gleich und ungleich zu unterscheiden, ist schon bei allen Wirbeltieren vorhanden. Auch beim Menschen ist die Fähigkeit zur Mustererkennung eine angeborene Kompetenz. Sie wird an unendlich vielen Beispielen trainiert und befähigt zur Unterscheidung von gleich, ähnlich und verschieden. Psychologen sprechen vom mappping der zu vergleichenden Situationen. Dem mapping entspricht die Bildung von Fallgruppen, eine auch über den Umgang mit Präjudizien hinaus geläufige Methode. Fallgruppenbildung ist auch in der Medizin verbreitet, und zwar sowohl zu diagnostischen Zecken als auch – und vor allem – für Abrechnungszecke.

Der Fallvergleich ist eine wie selbstverständlich geübte juristische Praxis, die allerdings methodisch wenig reflektiert wird. Daher sei hier an eine ältere Kontroverse zwischen Fritjof Haft und Arthur Kaufmann erinnert. Für Haft war der Fallvergleich »die zentrale juristische Operation« (S. 153). Er wandte sich gegen die »Grundvorstellung, daß es dem Rechtsanwender vorgegebene Rechtsideen gebe, und daß diese in abstrakten Begriffen festgehalten werden könnten. … [Denn] Die Gerechtigkeit ist eine Sache des Einzelfalles. Der Einzelfall wird nicht an vorgegebenen Ideen gemessen. Er trägt die richtige Lösung allein in sich« (S. 156f). Über eine »bewußt gestaltete Vergleichsfalltechnik« erfährt man von Haft freilich nicht viel mehr, als dass es sich um »rhetorisches Problem« handelt (S. 160). Auch Arthur Kaufmann sah im Fallvergleich den zentralen Akt der Rechtsgewinnung, nämlich »die Gleichsetzung des zu entscheidenden Falles mit solchen Fällen, die der einschlägigen Norm sicher unterfallen, also eine Analogie« (S. VI). Der Fallvergleich erfolge im Lichte einer durch Abduktion gewonnenen Normhypothese. Kaufmann wandte sich damit ausdrücklich gegen die Auffassung von Haft, dass ein Fallvergleich ohne Norm oder Regel möglich sei, die als tertium comparationis dient. Indessen verdient weder die Position Hafts noch diejenige Kaufmanns Zustimmung. Hafts Regelnihilismus ist nicht akzeptabel. Ohne Abstraktionen könnten wir uns nicht durch die Welt bewegen. Es geht immer nur um den Grad der Verallgemeinerung. Kaufmann stützte sich auf einen ungewöhnlich engen Subsumtionsbegriff, so dass er praktisch nicht mehr zwischen gleich und ähnlich, Subsumtion und Analogie unterscheiden konnte. Als subsumierbar unter ein Gesetz akzeptierte Kaufmann nur Zahlbegriffe. Jede andere Anwendung einer Regel fordert nach seiner Auflassung eine »Gleichsetzung«, die er als Analogie einordnete (S. 25). Subsumtion war für Kaufmann gleichbedeutend mit Deduktion. Damit verwendete er den Subsumtionsbegriff in dem engen Sinne, der in der formalen Logik maßgeblich ist. Juristen nutzen den Subsumtionsbegriff aber meistens in einem weiteren Sinne, der eine »kleine« Auslegung einschließt. Kaufmanns enger Subsumtionsbegriff hat einen (zu) weiten Analogiebegriff zur Folge, der die Realität der Musterkennung durch menschliche und künstliche Intelligenz verfehlt. Kognitive Neuroinformatik ist heute imstande, auch komplexe Verkehrssituationen eindeutig zu identifizieren.

Die Differenz zwischen Haft und Kaufmann verschwindet, wenn man den juristischen Begriff der Subsumtion als Kategorisierung im Sinne der kognitiven Psychologie versteht und zwischen gelingender und zweifelhafter Kategorisierung unterscheidet. Auch ohne (externen) Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich sind. Wäre es anders, gäbe es keine Kategorisierung und damit keine Begriffsbildung. Wenn die Objekte verschieden sind, kann man immer noch Ähnlichkeit konstatieren, wenn einzelne Merkmale übereinstimmen. Die Kategorie als kognitives (internes) Muster ist wohl Vergleichsmaßstab, aber noch keine (Rechts-)Norm. Erst wenn es darum geht, zwei Fälle trotz Verschiedenheit als ähnlich gleichzusetzen, braucht man einen weiteren Vergleichsmaßstab. Dann geht es nicht mehr um Ähnlichkeit an sich (ontische oder phänomenale Ähnlichkeit), sondern um relevante Ähnlichkeit.

Die juristischen Kategorien für Gleichheit liefern die Tatbestandmerkmale einer Norm. Wenn die Kategorisierung = Subsumtion misslingt, weil nicht alle, sondern nur einige Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, geht es nicht länger um Gleichheit, sondern um Gleichsetzung aufgrund von Ähnlichkeit. Die Ungleichsetzung entspricht dem distinguishing im Common Law. Black’s Law Dictionary (5. Aufl. 1979, S. 425) definiert: »To point out an essential difference.« Für Scott Brewer handelt es sich dabei um eine umgekehrte Analogie (disanalogy; Brewer S. 936, 983, 1006).

Regeln müssen mit Gattungsbegriffen ausgedrückt werden, die ebenso wenig scharf sind wie die kognitiven Muster des Vergleichens. Nicht nur im Alltag unterscheidet man zwischen gleich, ähnlich und verschieden. Auch künstliche Intelligenz kann Muster als gleich identifizieren und ähnliche herausfiltern. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir Personen, Gegenstände oder Örtlichkeiten, die wir einmal wahrgenommen haben, auch ohne Anlass wiedererkennen. Das gilt nicht nur für identische, sondern auch für gleiche Objekte unabhängig davon, ob Alltagsbegriffe oder Fachtermini als Kategorien dienen. Schwieriger als der Vergleich von kompakten Objekten ist der Vergleich von komplexeren Situationen, wie ihn der Fallvergleich fordert, der die Heranziehung eines Präjudizes rechtfertigen soll. Auch »Situationen« können nur mit Hilfe von Begriffen = Kategorien beschrieben werden. Situationen lassen sich verhältnismäßig einfach kategorisieren, wenn man nur auf einzelne perzeptiv prominente Merkmale abstellt, z. B. auf die Beteiligten (Mann, Frau, zwei, viele), auf den Streitgegenstand (Geld, Beziehung, Politik) oder den Orts- und Zeitbezug. Solche Kategorisierung dient im Vorfeld des Gerichtsprozesses für die Zuständigkeitsverteilung. Sie ist nicht von vornherein teleologisch, sondern – wenn man so will – ontologisch. Sie könnte auch für statistische Zwecke genutzt werden oder für die Zusammenstellung einer Stichprobe in der Sozialforschung. Aber singuläre Merkmale machen noch keinen »Fall«. Wenn es um den Tatbestand eines Präjudizes geht, wird es insofern schwierig, als der Fall keine schlechthin objektive Einheit bildet. Was als Fall definiert wird, ist ein interessengeleiteter Ausschnitt aus der Welt. In juristischem Zusammenhang erhält der Fall seine Konturen aus vorhandenen oder gewünschten Regeln, aus Urteilstatbeständen und Klagevorbringen. Immerhin ist der Altfall ist abgeschlossen. Man darf nicht mehr nach Umständen fragen, die dem Erstgericht nicht bekannt waren. Dagegen ist der neue Fall noch offen. Man kann immer noch nach ergänzenden Tatbestandselementen suchen, die einen Unterschied machen. Dennoch bleibt ein vorjuristischer, sozusagen ontologischer Fallvergleich möglich. Die Jurisprudenz würde auf ein wichtiges Element ihrer Urteilskraft verzichten, wenn sie sich nicht zutraute, zwischen Gleichheit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit zu differenzieren.

Ganz interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Sprachphilosophen mit einer »analogen« Problematik kämpfen und sich dazu an der Jurisprudenz orientieren. So überlegt Jasper Liptow, ob »sich unsere Praxis sprachlicher Verständigung aus philosophischer Perspektive in gewinnbringender Weise nach dem Modell einer (stark idealisierten) Praxis der Rechtsprechung verstehen lässt, nämlich des Fallrechts (case law)«. Hintergrund ist die Kontroverse, ob zur Erklärung sprachlicher Verständigung von Idiolekten, also der Privatsprache einzelner Sprecher, oder besser von Soziolekten, also vom regelhaften Sprachverhalten menschlicher Gemeinschaften auszugehen ist. Liptow selbst optiert für den Idiolekt als Ausgangspunkt, weil sich die Individualität sprachlichen Verhalten nur damit vertrage. Aus dieser Sicht wären Sprachnormen nicht konstitutiv für die sprachliche Verständigung, sondern nur sekundäres Hilfsmittel.

»Sprachliche Verständigung dient primär dazu, andere zu verstehen. Insofern sie als das Verstehen einer gemeinsamen Sprache konzipiert wird, verfehlt sie diesen Zweck immer dann, wenn andere in ihren Sprachgewohnheiten – ihren Idiolekten – von dem abstrakten Ideal abweichen.… Einem solchen Begriff von Verständigung zufolge teilen wir zwar keine Sprache, aber eine unüberschaubare Vielzahl von Situationen gelungener Verständigung mit mindestens einer weiteren Person.« (Jasper Liptow, Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis, in: Friedrich Müller (Hg.), Politik, (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, 2007, 55-69, hier zitiert nach einem im Internet verfügbaren Manuskript, S. 5, 11).

Liptow geht von einem »Fallrechts-Modell sozialer Praxis« aus, das von Robert Brandom »in einem ganz anderen Kontext« entwickelt wurde, nämlich zur der von ihm semantisch pragmatistisch genannten These, »daß der Gebrauch von Begriffen ihren Gehalt bestimmt, d. h. daß Begriffe keinen Gehalt außer dem haben können, der ihnen durch ihre Verwendung verliehen wird«. Brandom charakterisiert dieses Modell damit,

»daß es ausschließlich auf Fällen beruht. Es ist keine Auslegung von expliziten Grundrechten, Regeln oder Prinzipien. Es gibt hier nur eine Abfolge von Anwendungen von Begriffen auf aktuelle Gruppen von Tatsachen. … Der Gehalt der Begriffe, die der Richter anwenden muß, ist vollständig konstituiert durch die Geschichte ihrer früheren tatsächlichen Anwendungen … Es ist diese Tradition, gegenüber welcher der Richter verantwortlich ist. Der Gehalt dieser Begriffe wurde vollständig durch ihre faktische Anwendung konstituiert.« (Robert Brandom, Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus, Deutsche Zf Philosophie 47, 1999, 355-381, S. 377f.)

Für die an dieser Stelle erörterte Frage, ob Gleichheit und Ähnlichkeit von Fällen auch ohne Rücksicht auf eine Regel oder Norm beurteilt werden kann, helfen die Überlegungen Brandoms aber nicht weiter. Was in seinem von Hegel bestimmten Kontext die »Begriffe« sind, sind im juristischen Kontext eben die Regeln. Brandom geht es darum, wie aus einer Kette von Fällen Regeln entstehen, wiewohl doch der Richter den Vor-Fall als Präjudiz verwerfen könnte. Er verweist dazu auf die »reziproke Autorität« vergangener, aktueller und künftiger »Begriffsverwendungen«. Für den aktuellen Zusammenhang entnehmen wir Liptows Aufsatz nur, dass die Sprachphilosophie mit dem Gegensatz von Idiolekt und Soziolekt vor einem »analogen« Problem steht wie die Jurisprudenz mit der Frage, ob Fall oder Regel den Ausgangspunkt bilden. Wählt man analog zum Idiolekt den Fall als Ausgangspunkt und zieht man die Analogie mit Liptows Hilfe aus, so verhält es sich entsprechend der »radikalen Übersetzung« im Sinne von Quine und Davidson. Die Analogie funktioniert auf der Basis von Tatsachen, die ohne Regel zugänglich sind, nämlich auf der Basis von Fällen.

Es geht um die Frage, ob ein Gleichheitsurteil möglich ist, ohne dass man den Sinn und Zweck einer Regel bemühen muss. Unser Alltagsrealismus spricht für eine positive Antwort, ist aber wenig beweiskräftig, auch wenn die Epistemologie unter Berufung auf so prominente Autoren wie W. V. Quine einen naturalized turn verzeichnet (o. XXX). Zum Alltagsrealismus tritt der professionell geschulte Realitätssinn hinzu. Dem kann man, wie Brożek (S. 193) und Schauer (S. 88), von vornherein mit Skepsis begegnen. Doch wer mit dem Recht nicht grundsätzlich auf Kritikfuß lebt, wird die Herausbildung von professionellen kognitiven Mustern nicht als Defizit, sondern (mit Weinreb S. 59f) als Gewinn verbuchen.

»… the choice of which analogy to prefer is not like the flip of a coin. Just as her common sense, the accumulation of ordinary experience, tells Edna that it makes no difference how much cranberry juice costs or whether it is imported, a lawyer or judge relies on his knowledge and experience of law. The greater his experience in the particular area of law, the more likely is it that the analogy he chooses will be convincing to others (just like Edna’s advice [der darin bestand, sie solle den roten Saftflecken mit dem gleichen Mittel bekämpfen wie einen Rotweinflecken], to Mary would be more convincing if Edna had a degree in food chemistry). The choice is informed also by a broad understanding of what is relevant to the sort of decision being made – a matter of liability (Adams) or regulation or business or individual rights – and broader still, what generally ›counts‹ in law.«

Juristische Expertise bietet keine Garantie, aber eine gute Chance, sich bei Vergleichen (beim mapping oder distinguishing) auch Charakteristisches und Relevantes zu konzentrieren und Neben­säch­liches und Gleichgültiges auszuschalten. Es hilft, sich an die Relationstechnik (Gutachtentechnik) zu erinnern, die der Referendar in der Zivilstation beim Landgericht lernt. Dafür ist ein Tatbestand anzufertigen, der alle potenziell rechtlich relevanten Umstände aufführt, aber auch nur diese. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob die Umstände am Ende entscheidungsrelevant sind. Meist fällt es nicht schwer, eine Vielzahl von Umständen für irrelevant zu befinden. Ob der Kläger vor dem Vertragsschluss Rührei oder Müsli gefrühstückt hat ist dann ebenso unerheblich wie seine Haarfarbe.

In vielen Fällen liegt das Gleichheitsurteil auf der Hand. Wurde dem Käufer eines Audi mit Dieselmotor des Baujahrs 2008 Schadensersatz zugebilligt, weil der Motor des Typs EA189 mit einer so genannten Schummel-Software ausgerüstet war, so liegt der Fall des Käufers eines anderen Audi mit diesem Motor, der nunmehr seinerseits Ersatz fordert, gleich. Für das Gleichheitsurteil bedarf es keiner Regel, wiewohl man eine Regel formulieren könnte, die gleiche Fälle dieser Art, und nur diese, erfasst. Die Begriffe dieser Regel wären vollständig konstituiert durch ihre frühere Anwendung. In dieser Regel erschöpft sich das holding des Präjudizes.

So klar ist das Gleichheitsurteil nicht immer. Die Kategorisierung von Fällen als gleich fällt »analog« zur Kategorisierung qua Subsumtion oft zweifelhaft aus. Dann allerdings muss ein weiterer Vergleichsmaßstab her. Aber da hilft keine einzelne Regel. Eine Regel deckt entweder nur den Altfall oder nur den Neufall. Für eine Analogie, welche ähnliche Fälle gleichstellt, benötigt man eine Norm, die beide Fälle einschließt. Erst eine weiter gefasste Norm kann herangezogen werden, um die verschiedenen Fälle als hinreichend ähnlich gleichzusetzen. Es stehen also drei Regeln zur Wahl. Dann gilt es zu begründen, welche Regel den Vorzug verdient. Zur Begründung einer Regel dienen in erster Linie ihr Zweck und als Kehrseite ihre Folgen. Damit setzt ein Wechselspiel von Fallvergleich, Regelbildung und Begründung ein. Das nackte holding ist ein theoretischer Grenzfall. Man geht davon aus, dass sich die Richter bei ihrem Urteil etwas gedacht haben, und das fließt bei der »hermeneutischen« Rekonstruktion (Poscher) des Präjudizes ein. Die relevante Ähnlichkeit ergibt sich aus der Begründung der Norm. Aber es bleibt dabei, dass auch der unmittelbare (phänomenologische) Fallvergleich die Wahl der Regel mitbestimmt. Fallvergleich und teleologische Überlegungen wirken zusammen (Weinreb S. 60ff). Die bloße Ähnlichkeit der Fälle gibt Anlass, auf den Zweck der im Präjudiz ausgedrückten Regel zurückzugehen, denn der Zweck kann die Gleichsetzung per Analogie stützen, weil er zeigt, welche Ähnlichkeit relevant ist. Auch wenn man nicht so weit geht, wie Fritjof Haft mit der Ansicht, der Einzelfall trage die richtige Lösung allein in sich, so weckt doch der Fall eine starke Intuition, die sich nicht ganz unterdrücken lässt.